Schneeflockenbaum (epub)
habe einmal bei meinen Tanten übernachtet, und im Radio kam Musik von ... nenn doch mal einen Namen, einen ganz bekannten ...
»Beethoven.«
»Nein, der war es nicht, es war ein anderer, ein armer Schlucker.«
»Bach?«
»Auch nicht. Noch ein anderer.«
»Mozart?«
»Ja, dieser Habenichts war’s. Ich sehe es noch vor mir. Drüben im Westgaag kullerten meinen Tanten die Tränen über die Wangen, als aus ihrem schwarzen Bakelitradio Geigenmusik ertönte. Ich wusste nicht, woran ich war. Ich höre meine Tante noch sagen: ›Diese Musik spielt man im Himmel.‹ Als ob im Himmel jemals etwas gespielt werden könnte, was aus dieser sündigen Welt stammt.«
»Im Himmel wird also kein Mozart gespielt?«
»Natürlich nicht. Auch dessen Musik ist mit der Sünde befleckt, ist mit Sünde getränkt, von Sünde durchzogen, durch Sünde geprägt, in Sünde gewaschen und mit Sünde beschmutzt.«
»Kein Mozart im Himmel? Tja, dann will ich gar nicht dorthin.«
»Sag doch nicht immer so schreckliche Dinge. Der Herr wird dich dafür bestrafen.«
Um sich selbst ein wenig zu beruhigen, trank sie durch ihren Strohhalm ein paar Schlucke Tee. Dann sagte sie: »Es war also wirklich nur dieses Gefiedel, weshalb du dich zwischen den Solexen aufgehalten hast? Na, da fällt mir ein Stein vom Herzen. Wenn man bedenkt, was heute so alles passiert! Sogar in unserer Kirche denkt man über die Schwulenehe nach. Also, wenn das kommt, dann trete ich umgehend aus. Dann werde ich auf meine alten Tage noch christlich-reformiert. Denn unsere Kirche ... sie will sich mit der niederländisch-reformierten Kirche und noch so einem dämlichen Verein zusammentun ...
»Mit den Lutheranern.«
»Genau, mit diesen lendenlahmen Lutheranern. Na, dann kann man sich ja an fünf Fingern ausrechnen, dass nie wieder die alten Reimfassungen gesungen werden. Es ist unbegreiflich, dass sie einfach alles dafür tun, einem alten Menschen wie mir das Leben zu vergällen. Sogar in der Kirche, vor allem in der Kirche.«
Flusenpusten
U ngeachtet der heldenhaften, tränenreichen Offensive meiner Mutter machte ich, zusammen mit Jouri, die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium. Beide bestanden wir sie mit sehr guten Noten, wobei ich noch eine Idee besser war.
An einem sonnigen Tag Anfang September radelten wir zu dem soeben fertiggestellten Neubau des Groen-van-Prinsterer-Gymnasiums am Rotterdamseweg in Vlaardingen. Während das Realgymnasium von Anton Wachters nicht einmal über ein Portal verfügte, gab es hier einen Haupteingang mit einem riesigen Vordach und einer durchbrochenen breiten Treppe, auf der man fast hochzuschweben schien. Einen solch prächtigen Eingang durften die Schüler natürlich nicht benutzen. Sie mussten hintenrum und durften das Gebäude nur durch den Fahrradkeller und auf verschlungenen Wegen betreten, wie Ratten aus der Kanalisation.
Schon sehr bald bemerkten Jouri und ich, dass wir in der Jungenklasse 1 E der Einführungsstufe aus der Reihe fielen. Unsere Klassenkameraden konnten auf Väter mit angesehenen Berufen verweisen. Das waren keine Fahrradmonteure, die heimlich eine Solex-Werkstatt betrieben. Ganz zu schweigen davon, dass einer von ihnen Grabmacher war. Ängstlich verschwiegen wir, womit unsere Väter ihr Geld verdienten. Auf Nachfrage gab ich allenfalls preis, dass mein Vater »Gemeindebeamter« sei, doch was das bedeutete, erläuterte ich nicht weiter. Jouri behauptete stolz, sein Vater sei »Operator«. Keiner in der Klasse wagte es zuzugeben, dass er nicht wusste, was ein »Operator« ist. Mit diesem Wort, dass er mit einem Lehrer-Passchier-Akzent aussprach, konnte er sich also gut aus der Affäre ziehen.
Dennoch geriet Jouri mit dem Begriff »Operator« nach einigen Monaten in Schwierigkeiten. Vermutlich dem Motto folgend »Verleib dir ein, was du nicht bekämpfen kannst«, bot die Generalvertretung von Solex, die offenbar der vergeblichen Prozesse müde war, die sie gegen Jouris Vater geführt hatte, Kerkmeester sen. die Leitung einer Servicestation am Schiedamseweg in Vlaardingen an. Jouris Vater zögerte. Seiner Meinung nach hatte die stolze Solex ihre besten Zeiten hinter sich. Wie lange würden sich die Solex-Fahrer noch an der Nase herumführen lassen? Wie lange würden sie noch glauben, dass Solexine, das sie ausschließlich bei den Solex-Servicestationen kaufen konnten, der einzige sichere Treibstoff für ihre Fahrzeuge war? »Mörderische Konkurrenz rückt näher«, sagte Jouris Vater voraus, »die Mobylette und
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