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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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lösen?«
    »Das war auch nicht der einzige Grund. Ich wollte es auch deshalb nicht, weil ich dachte, dass du, wenn du wie die meisten anderen zur Realschule gehen würdest, endlich von diesem Bürschchen erlöst wärest.«
    »Von Jouri?«
    »Ja, genau, von diesem Kerl mit seinen geschickten Tentakelfingern. Warum warst du mit dem nur so gut befreundet?«
    »Weil er Klassenbester war.«
    »Oh nein, du warst der Beste.«
    »Mir war immer schon klar, dass er der Beste war. Ich war brav, ich arbeitete hart, doch er schluderte dauernd mit den Hausaufgaben und hatte trotzdem gute Noten.«
    »Weißt du, was du wolltest? Du wolltest nicht aufs Gymnasium, du wolltest mit Jouri aufs Gymnasium, du wolltest immer alles mit ihm zusammen tun, immer hieß es Jouri hier und Jouri da, du warst für die Kerkmeesters fast so etwas wie ein zweiter Sohn. Was hatten sie bloß, was wir nicht hatten?«
    »Eine Strickmaschine, um nur ein Beispiel zu nennen.«
    »Ach ja, die schöne Strickmaschine, um mich zu ködern, hat Jouris Mutter mir die geschenkt! Nein, die konnten mir gestohlen bleiben, diese Kerkmeesters, so nett Jouris Mutter auch war, aber schließlich war Krieg gewesen. Ach, wenn du doch nur auf die Realschule gegangen wärst, dann ginge es dir heute besser.«
    »Ich darf nicht dran denken, an die Realschule.«
    »Was ist denn an der Realschule so schlecht? Dein Bruder ist auf die Realschule gegangen, und der hat viel besser die Kurve gekriegt. Der muss nicht Rad fahren, wenn er seine alte Mutter besuchen will. Mit seinem Auto steht er in weniger als zwanzig Minuten hier vor der Tür!«
    Grimmig schlürfte sie eine Zeit lang Tee durch einen Strohhalm, schließlich sagte sie: »Was ich im Hinblick auf Jouri am allerschlimmsten fand, war, dass du die ganze Zeit bei seinem Vater mehr oder weniger auf dem Schoß gesessen hast. Wie oft habe ich mir nicht von diesem oder jenem anhören müssen: ›Ich hab meine Solex zu Kerkmeester in die Werkstatt gebracht, und weißt du, wer dort saß? Dein Sohn. Wohnt der vielleicht da?‹«
    Sie fixierte mich durch ihre funkelnden Brillengläser wie ein Ermittlungsbeamter. »Was faszinierte dich an dem Mann? Im Krieg hat er mit den Deutschen kollaboriert; allein die Tatsache, dass er ...
    »Davon habe ich doch inmitten der ganzen Solexe nichts gemerkt! Was wusstest du als Kind vom Ersten Weltkrieg? Niemand sprach darüber, das hat erst später angefangen. In der Schule erfuhren wir bis ins Detail, wie die Wassergeusen Den Briel erobert haben und wie Jan de Bakker in Den Haag wegen seines Glaubens verbrannt wurde; aber über die Zeit von 1940 bis 1945 sprach damals keiner. Ich hatte keine Ahnung.«
    »Ebendarum. Das machte es ja noch schlimmer. Du warst noch ein unbeschriebenes Blatt. Er konnte dich in alle möglichen Richtungen schieben.«
    »Das ist nicht geschehen, also Schwamm drüber.«
    »Nein, aber etwas viel Schlimmeres ist passiert, ach, wärst du doch auf die Realschule gegangen. Dann wäre es dir erspart geblieben, fünf Jahre neben Jouri in der Schulbank sitzen zu müssen. Ich gebe zu, er war damals ein artiger Junge, ordentlich, freundlich, zuvorkommend, da war nichts dran auszusetzen, aber trotzdem war ich froh, als du auf dem Gymnasium einen neuen Freund fandest, diesen Tonny Koster. Warum ist nie was draus geworden?«
    »Weil er mich, als wir noch auf dem Deich fuhren, gefragt hat: ›Du wohnst doch bestimmt nicht in einem dieser Armeleutehäuser unten am Deich?‹ Aber dort wohnte ich sehr wohl. Und darüber ist der Notarssohn aus Schiedam nie hinweggekommen. Danach war’s dann sofort aus mit unserer Freundschaft.«
    »An mir hat es damals nicht gelegen. Tonny gegenüber bin ich immer sehr freundlich gewesen.«
    Sie sah mich wieder mit diesem Ermittlungsbeamtenblick an und sagte dann: »Schau mir einmal gerade in die Augen, und sag mir ganz ehrlich, Jouris Vater und du ... war das ... wie soll ich es nur ausdrücken. Man hört da heute so viel darüber, alte Kerle, die mit kleinen Jungen rummachen. War das bei euch auch so?«
    »Nein, das war es nicht«, sagte ich ruhig. »Es war etwas ganz anderes. Er hatte in seiner Werkstatt einen Plattenspieler, und er war unglaublich geschickt, er hatte einen sehr ordentlichen, recht großen Lautsprecher gebaut, und wir hörten in der Werkstatt immer Musik, wirkliche Musik. Nirgendwo sonst bekam ich wirkliche Musik zu hören, obwohl ich doch so danach verlangte.«
    »Ich verstehe das nicht. Von wem könntest du diese Marotte nur haben? Ich

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