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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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benebelt und berauscht, ist allenfalls gekonnter Sprachgebrauch ... und das ist nichts anderes als geschicktes Gaukeln mit Wörtern, und so, wie dich der Taschenspieler hinters Licht führt, so wirst du auch hier betrogen.«
    »Und wie kommst du zu diesen Erkenntnissen?«
    »Indem ich alles auf Maß und Zahl reduziere. So wie wir jetzt hier fahren, Reisegeschwindigkeit 18 Kilometer pro Stunde, Windstärke 3, 19 Uhr und 32 Minuten, auf dem 52. Grad nördlicher Breite ... so könnte man unsere Fahrt von A bis Z in Zahlen fassen, und nur damit kann man rechnen. Nicht, dass es dabei etwas zu ergründen gäbe, denn zu ergründen gibt es nichts, aber man könnte, wenn man so rechnet, möglicherweise Vorhersagen machen – viel mehr kann man auch nicht verlangen, aber du würdest einsehen, dass alles, was ist, logisch aus dem folgt, was bereits war, ohne dass man dabei mit Begriffen wie Motiv, freier Wille, Plan, Absicht, Schuld, Buße, Strafe, Vergeltung arbeiten müsste – denn das ist alles vollkommener Unsinn.«
    Während er weiterschwadronierte, eine These eigenartiger und ungewöhnlicher als die andere, fuhr sie hinter uns her, vielleicht weniger aus freiem Willen als vielmehr aufgrund der Tatsache, dass sie von Jouri verzaubert war. Als wir bei der Solex-Servicestation ankamen, verschwand sie blitzschnell in einer Seitenstraße. Sie kam erst wieder daraus hervor, als Jouri ins Haus gegangen war. Sie schaute eine Weile zur Servicestation hinüber, schüttelte dann den Kopf und stieg aufs Fahrrad. Ganz kurz hob sie die Hand, als wollte sie mich grüßen. Dann fuhr sie in Richtung Binnensingel davon.
    Später habe ich Jouri gefragt, ob er bemerkt habe, dass er an der Ampel ein Mädchen verzaubert habe.
    »Ich? Ein Mädchen verzaubert? Wie kommst du darauf? Du siehst Gespenster, Phantome, Fata Morganas.«

Frederica
    W ir waren bis zur Abiturklasse vorgedrungen. Als Pubertierende konnte man uns kaum noch bezeichnen. Vielleicht waren wir es sogar nie gewesen. Jouri und ich hatten uns zu mächtigen Lehnsherren in der beeindruckenden Schulbibliothek hochgearbeitet. Bedauerlicherweise machten die Schüler des Groen kaum Gebrauch von den Angeboten der »Prinsterer Librye«. Wenn man am Mittwochnachmittag Bibliotheksdienst hatte, konnte man froh sein, wenn mehr als drei Schüler Bücher ausleihen wollten. Darum wechselten Jouri und ich uns ab, nachdem wir zunächst gemeinsam den Dienst versehen hatten, auch wenn ich die bange Vermutung hatte, dass er, wenn ich nicht da war, den sowieso schon unwilligen Lesern der vorgeschriebenen Bücherliste von »Romanen und solchen Sachen« entschieden abriet.
    In dieser Zeit habe ich übrigens die Magie des Worts »Dienst« kennengelernt. Immer noch komme ich in den Genuss dieser Entdeckung. Ruft mich jemand an, um mich zu überreden, irgendetwas zu tun, wozu ich keine Lust habe, dann sage ich einfach: »Tut mir leid, da kann ich nicht, da habe ich Dienst.« Dann wird nicht weiter gefragt. Dienst, natürlich, da muss alles andere zurückstehen.
    Wie dem auch sei, eines Mittwochs im Oktober, etwa sieben Monate vor dem Abitur, hatte ich Dienst. Es war ein ruhiger Nachmittag, niemand besuchte die Bibliothek. Draußen prasselten ab und zu, gleichsam als kleiner Vorgeschmack auf den Winter, Hagelkörner gegen die Fensterscheiben. Um für ein bisschen Abwechslung zu sorgen, heulten auch Windstöße über die Hockeyfelder des Groen. Manchmal klarte es kurz auf, und dann schien die Sonne grell und mit gleißendem Licht auf die glänzenden Arbeitstische der Bibliothek. Während eines solchen sonnigen Intermezzos klopfte es leise an die Tür.
    »Herein!«, rief ich.
    Quälend langsam öffnete sich die Tür.
    »Du musst hier nicht anklopfen«, sagte ich zu der Schülerin der Mädchenrealschule, die sich, die Zögerlichkeit in Person, schließlich über die Schwelle wagte. Sie schloss die Tür hinter sich, sah mich an, als wollte sie sich bei mir krankheitshalber abmelden, fasste sich dann ein Herz und schritt mit ihren langen Beinen auf den Tisch zu, hinter dem ich mich verschanzt hatte.
    »Das wusste ich nicht«, sagte sie.
    Damals war ich unglaublich schüchtern, ich wagte kaum, ein Mädchen anzusprechen. Wenn ich aber Dienst hatte, ließ ich meine Verlegenheit hinter mir, und manchmal schaffte ich es sogar, einen vollständigen Satz zu sagen. Die Unterstützung, die ich der Bedeutung meines »Dienstes« verdankte, brauchte ich an diesem Nachmittag mehr denn je, denn vor mir stand das Mädchen,

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