Schneeflockenbaum (epub)
Ausdruck summte mir die ganze Zeit in den Ohren. Es war, als wäre damit, so unerträglich banal es sich auch angehört hatte, das Urteil über mich gesprochen worden. Natürlich, ein Mädchen wie Hebe, davon brauchte ich noch nicht mal zu träumen, geschweige denn, dass ich so vermessen gewesen wäre, mich in sie zu verlieben. Aber Jouri? War es Jouri vergönnt, von ihr zu träumen? Und wenn ja, warum bestand dann zwischen Jouri und mir ein so großer Unterschied, obgleich wir doch seit dem Kindergarten so unzertrennlich waren, dass man hätte meinen können, wir seien Zwillingsbrüder?
Verfolgung
I ch erinnere mich an einen anderen Sommerabend. Jouri und ich kamen mit dem Fahrrad aus Schiedam. Auf mein Drängen hin hatten wir dort in der öffentlichen Bibliothek nach Der Arzt und das leichte Mädchen von Simon Vestdijk gesucht, einem Roman, den es in der Christlichen Öffentlichen Bibliothek in Vlaardingen nicht gab. Leider stellte sich heraus, dass dieses Buch mit dem verheißungsvollen Titel auch in Schiedam fehlte.
Am Bahnhof Vlaardingen-Ost warteten wir vor einer roten Ampel. Gleich vor der Haltelinie stand auch ein Mädchen. Sie schaute über die Schulter. Ich starrte sie an. Sie war schlank, trug einen dunkelbraunen Pullover und eine dunkelgrüne Hose. Langes, glattes Haar umrahmte ihr ovales Gesicht. Heute würde mir dieses Mädchen wahrscheinlich nicht auffallen, doch damals, an jenem Sommerabend, berührte mich das hübsche Gesicht zutiefst. Es war, als könnte ich erraten, was sie gerade dachte: Der komische Kerl starrt mich an, widerlich, wie kann er es wagen, dieser Idiot.
Dann wanderte ihr Blick langsam zu Jouri, der, in heitere Meditation versunken, seine Augen auf die Ampel gerichtet hielt. Ihr Mund öffnete sich ein wenig, in ihren Augen war ein kurzes Flackern zu sehen, in dem Panik, Erstaunen und Unglauben lagen. Sie schloss den Mund, sah mich dann wieder an und lächelte unsicher.
Die Ampel sprang auf Grün. Jouri fuhr sofort los. Das Mädchen wartete einen kurzen Moment und fuhr dann neben ihm her. Sie drehte sich um, mit triumphierendem Blick, als wollte sie sagen: So, jetzt fahre ich neben deinem Freund! Lange gelang ihr das nicht. Sie schaute wieder zu mir nach hinten. Der Triumph war Panik gewichen. Plötzlich beschleunigte sie und flitzte in die Van Hogendorplaan. Sie bog nach links in eine Seitenstraße.
Jouri hatte nichts bemerkt und fuhr in aller Ruhe weiter. Er bemerkte auch nicht, dass sie bald danach wieder aus einer Seitenstraße aufgetaucht war und hinter uns fuhr. Dann stemmte sie sich in die Pedale und überholte uns mit schwindelerregender Schnelligkeit, wobei ihr Fahrrad heftig hin und her schlingerte. In dem Augenblick, als sie an uns vorbeijagte, schaute sie Jouri an, als wollte sie ihn verschlingen. Einen kurzen Moment lang schaute sie auch zu mir, und ein eigenartiges, verschmitztes, verlegenes Lächeln flog dabei über ihr Gesicht. Es war, als wollte sie mir sagen: »Nun denn, um deines Kameraden willen bin ich bereit, dich als Vasallen, Leibeigenen, Schildknappen dieses Prachtkerls zu akzeptieren.«
Ach, die Worte »Vasall«, »Leibeigener« und »Schildknappe« werden nicht durch die Synapsen in diesem hübschen Kopf geschossen sein. Sie war nur, in einem Sekundenbruchteil, in Jouris Bann geraten und konnte sich daraus offenbar nicht mehr befreien. Sie fuhr die ganze Zeit vor uns her, bog dann in eine Seitenstraße ein, wartete, bis wir vorbeigeradelt waren, und fuhr wieder hinter uns her. Schlingernd überholte sie uns anschließend, wobei sie Jouri so eindringlich wie möglich ansah. Dass er davon nichts bemerkte, ist mir ebenso unbegreiflich wie die Tatsache, dass ich ängstlich den Mund hielt. Vielleicht lag es an Jouris Predigt, die er mir gerade hielt: »Wozu solch einen Aufwand für einen Roman von Vestdijk? Was findest du nur an diesem Autor? Ich habe einmal ein paar Seiten von Das fünfte Siegel gelesen. Klarheit? Nein. Einfachheit? Auch nicht. Eher das Gegenteil davon, alles ist unnötig kompliziert. Nicht alle Autoren schreiben so fürchterlich, Bordewijk ist besser, aber dennoch: Wozu sind Romane nütze? Was ist Belletristik anderes als die konsequente Weigerung, die beängstigende Banalität und die schreckenerregende Alltäglichkeit des nackten Daseins zu akzeptieren?«
»Nun mach mal halblang, das ist doch nur hochtrabender Unsinn«, erwiderte ich. »Dank guter Romane gewinnt man eine gewisse Erkenntnis ...
»Ach, was, Erkenntnis! Was dich
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