Schneeflockenbaum (epub)
starrte mich mit großen, fragenden Augen an. Sah sie mich überhaupt?
»Hi«, sagte sie.
Sie trat einen Schritt zur Seite und tauchte aus der imaginären Glaswelt des Spiegels auf.
»Und«, fragte sie, »steht mir das?«
Sie trug ein Kostüm, das einen Hauch heller war als ihr platinblondes Haar. Wenn ich auf dem Weg zu ihr noch zu hoffen gewagt hatte, sie habe das mit dem Geschnörkel nicht gesagt, um mich zu verletzen, und Jouri sei nicht mir ihr zum Chinesen gegangen, um sie mir abspenstig zu machen, so ließ dieses wunderschöne Kostüm, worin sie wie eine junge Königin aussah, die inkognito Ferien macht, all meine Illusionen in tausend Scherben zerspringen.
»Gestern gekauft«, sagte sie, »zusammen mit meiner Tante. Die hat es auch bezahlt. Sie meinte, ich sollte mir endlich einmal etwas zulegen, worin ich wirklich ordentlich aussehe. Wie findest du es?«
»Es steht dir wirklich phantastisch.«
»Ja, das sagte meine Tante auch. Ich selbst muss mich erst noch daran gewöhnen. Es fühlt sich an, als wäre man jemand anders. So könnte ich nicht auf Exkursion gehen. Ich traue mich kaum, mir eine Zigarette zu drehen, und zu rauchen erst recht nicht. Wenn man ein solches Kostüm trägt, muss man feste Zigaretten in einer langen silbernen Spitze rauchen. Und eigentlich muss man sich auch ein wenig schminken. Und flache Schuhe kann man dazu auch nicht tragen.«
»Ein weißer Hut oder ein weißes Barret würde gut dazu passen.«
»Ja, mach dich nur lustig! Nein, das lassen wir vorläufig noch bleiben. Das reicht so. Nachher fahre ich in diesem Aufzug nach Hause. Bin gespannt, was meine Eltern dazu sagen.«
»Darin willst du fahren? Dann kommst du schmuddelig an. So schön dieses Kostüm ist, so empfindlich ist es auch.«
»Das hättest du besser nicht gesagt. Nun habe ich unterwegs keine ruhige Minute.«
»Nun ja, aber ...
»Kein Wort mehr. Mach es nicht noch schlimmer. Ich wollte übrigens gleich aufbrechen. Hast du Zeit und Lust, mich zum Bahnhof zu bringen?«
»Ja, natürlich.«
Also gingen wir kurze Zeit später an dem glitzernden, sich kräuselnden Wasser entlang zum Bahnhof. Aus den Kastanien taumelten weiße Blütenblätter herab. Man hätte meinen können, es schneite. Sie ging neben mir her in ihren sahneweißen Schuhen. Während ich mit einer Hand mein Fahrrad schob, hielt ich mit der anderen ihren Koffer, der auf dem Gepäckträger stand.
In Höhe der Heen-en-weerbrug hatte ich genug Mut gefasst, sie ganz beiläufig zu fragen: »Gestern, als ich zum Städtischen Konzerthaus ging, bin ich durch den Diefsteeg gekommen, und da meinte ich doch tatsächlich, dich im Woo Ping zu sehen.«
»Mich? Ich bin den ganzen Tag mit meiner Tante unterwegs gewesen und habe bei ihr zu Hause eine Kleinigkeit gegessen. Mich kannst du unmöglich im Woo Ping gesehen haben. Das muss eine andere Frau mit kurzen blonden Haaren gewesen sein, die mir ähnlich sieht.«
Einen Moment lang glaubte ich ihr, auch weil sie so ruhig verneinte, dort gesessen zu haben, und zudem noch eine triftige Begründung parat hatte.
»Und ich hätte schwören können ..., sagte ich verdutzt.
»Es war ein toller Tag gestern mit meiner Tante, ein ganz toller Tag.«
Mehr noch als das empfindliche sahneweiße Kostüm, das sie in ein unerreichbares Mannequin verwandelte, schuf dieses so unbekümmert geäußerte Dementi einer Tatsache, die ich mit eigenen Augen gesehen und im Woo Ping zudem noch verifiziert hatte, eine unüberbrückbare Distanz. Sie log mich an, also war es tatsächlich zu Ende, definitiv aus und vorbei. Natürlich, ich hatte es bereits gewusst, als sie voller Abscheu »Mozart, pfui, dieses ganze Geschnörkel« gesagt hatte, aber dennoch wäre da noch ein Kompromiss möglich gewesen. Sie mochte schließlich Prokofjew, und das war unglaublich, wenn man bedachte, dass fast alle auf den Knien lagen vor dem betrüblichen Unsinn, den die Beatles, die Rolling Stones und Elvis Presley absonderten. Aber knallharte Lügen in einem so frühen Stadium der Liebe, das ging ganz und gar nicht. Dann wurde Misstrauen gesät, wo vollkommen selbstverständliches wechselseitiges Vertrauen wachsen und erblühen sollte.
Am Bahnhof angekommen, trug ich ihr Gepäck zum bereitstehenden Zug. Ich stieg sogar ein, um ihr den Koffer ins Gepäcknetz zu wuchten. Dann musste ich mich beeilen, um vor der Abfahrt wieder auszusteigen, denn es ertönte bereits der schrille Pfeifton. Julia öffnete das Fenster, rief »Auf Wiedersehen« und winkte eifrig
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