Schneeflockenbaum (epub)
noch davon überzeugt, dass wir unweigerlich zueinanderfinden würden. Doch eines Abends fuhren wir zu mir. Unterwegs war ich mir sicher: Heute passiert es, heute werde ich sie in den Arm nehmen, heute werde auch ich sie küssen, streicheln, küssen. Es störte mich nicht, dass schon so viele andere Jungen sie geküsst hatten. All die Zeit war sie ja schließlich blind gewesen, sie hatte noch nicht gewusst, dass ich jahraus, jahrein auf sie gewartet hatte, so wie Jakob auf Rachel.
In meinem Zimmer angekommen, schaltete ich das Radio ein. Nachdem ich einen Moment gelauscht hatte, sagte ich entzückt: »Ah, Mozart, die Haffner .«
Daraufhin sah sie mich mit ihren großen kornblumenblauen Augen völlig erstaunt an. Dann ließ sie sich schwer in einen verschlissenen Sessel fallen und sagte ziemlich verächtlich und gereizt: »Mozart, pfui, dieses ganze Geschnörkel.«
Diefsteeg
U m auf ganz eigene Weise das Ende meines dritten Studienjahres zu feiern, begab ich mich an einem milden Frühsommerabend zum Städtischen Konzerthaus. Unter Leitung von Willem van Otterloo sollte dort das Residentieorkest vor der Pause seine eigene Orchesterbearbeitung der Fantasie f-Moll von Franz Schubert sowie die Ouvertüre De getemde feeks von Johan Wagenaar aufführen. Nach der Pause stand noch die Siebte Symphonie von Antonín Dvořák auf dem Programm.
Bei jedem Konzert strömten die Besucher in der Pause, wenn das Wetter es zuließ, massenhaft ins Freie, um in der Breestraat ein wenig frische Luft zu schnappen. Wenn ich mich unter diese Besucher mischte, dann konnte ich, wenn die Klingel schrillte, die das Ende der Pause verkündete, mit den anderen in den Saal schlendern. Mithilfe dieses kleinen Betrugsmanövers hatte ich schon eine Reihe von Konzerten gehört.
War ich deshalb ein Schnorrer? Aber was sollte ich sonst machen, als Student, mit einem Stipendium von 2400 Gulden pro Jahr?
Die Pause würde, so schätzte ich, gegen zehn nach neun beginnen. Vielleicht ein wenig früher. Um auf keinen Fall zu spät zu kommen, schlenderte ich bereits um Viertel vor neun vom Pieterskerkhof und durch den Diefsteeg kommend in Richtung Breestraat. Im dunklen Diefsteeg brannten die Straßenlampen noch nicht. Aus dem chinesischen Restaurant Woo Ping schimmerte fahlrotes Licht in den Diefsteeg, das dem engen Gässchen etwas Unheimliches verlieh. Einen Moment lang überlegte ich umzukehren, um dann durch den Pieterskerkkoorsteeg zur Breestraat zu gehen. Aber ich fasste mir ein Herz, tauchte in die Zone mit dem blassroten Zwielicht ein und ging hastig an dem Restaurant vorüber.
Woo Ping ist ein recht großes Lokal. Links und rechts vom Eingang gibt es jeweils zwei große Fenster. Die beiden Restauranthälften sind durch einen Gang voneinander getrennt.
Als ich am zweiten Fenster vorbeimarschierte, schaute ich kurz ins Restaurant. Nicht auf etwas Bestimmtes, sondern einfach nur, um meinen Blick ein wenig schweifen zu lassen. Ich summte das Hauptthema der Fantasie f-Moll . Selbst im erstaunlichen Œuvre Schuberts ist diese Fantasie einer der absoluten Höhepunkte, eine beispiellose Komposition. Es wunderte mich, dass van Otterloo sich daran vergriffen und eine Orchesterbearbeitung geschrieben hatte.
Wie dem auch sei, ich summte Schubert, warf einen flüchtigen Blick in das Restaurant und ging dabei ruhig weiter, im Takt der Musik.
Vor der Eingangstür blieb ich abrupt stehen. Täuschte ich mich? Saß dort nicht Julia? War sie noch in Leiden? Am Ende der Übung zur Pflanzenphysiologie hatte sie doch zu mir gesagt, sie werde am selben Tag noch zu ihren Eltern fahren?
Ich ging zurück und schaute gezielter in das Restaurant. Ja, da saß sie, mit dem Rücken zu mir an einem Tisch in der Mitte des Lokals. Ich kannte sie inzwischen gut genug, um sofort zu erkennen, dass sie beschwingt und fröhlich war und sich wohlfühlte. Ihr blondes Haar glänzte und wogte prachtvoll um ihren Hinterkopf. Wenn sie deprimiert war, war es immer ganz struppig.
Während sie die ganze Zeit auf die Person neben ihr einredete, aß sie ab und zu einen Bissen. Im Woo Ping sind alle Tische durch hohe rote Zwischenwände voneinander getrennt, sodass ich ihre Begleitung, die von einer solchen Wand verdeckt wurde, nicht erkennen konnte. Wer saß dort? Eine Freundin aus dem Studentenklub? Ein Biologe? Ihre Tante, die auch in Leiden wohnte? Eine Weile stand ich da und spähte wie Robert aus Patricia Highsmith’ Roman Der Schrei der Eule . Wie angeregt sie sich unterhielt! Wie
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