Schneeflockenbaum (epub)
mit ihren sahneweißen Armen. Das tat sie noch, als der Zug kreischend die Kurve zum Bahnhof Leiden-Lammerschans nahm. Es schien, als dächte sie: Da es nun das letzte Mal ist, will ich ihm ausführlich zuwinken.
Vom Bahnhof aus ging ich geradewegs in die Hogewoerd. Auch Jouri traf ich zu Hause an. So bedächtig, ruhig und beherrscht er für gewöhnlich war, so aufgeregt war er jetzt.
»Was ist los?«, fragte ich ihn.
»Ich habe Neuigkeiten, wirklich phantastische Neuigkeiten. Und du bist der Erste, der davon erfährt. Ich habe einen Brief bekommen.«
Er wedelte mit einem Umschlag und rief ausgelassen: »Rate mal!«
»Ich erkenne dich kaum wieder. Du bist doch sonst immer so ruhig. Was könnte dich so aus der Fassung bringen?«
»Champagner, ach, hätte ich jetzt nur Champagner oder zumindest Perlwein, dann würden wir uns draußen auf den Steg setzen und uns besaufen.«
»Ist es etwas so Großartiges, dass es gefeiert werden muss?«
»Ja, ich bin im Rahmen eines Austauschprogramms mit der Universität Harvard ausgewählt worden. Ich darf ein Jahr lang dort studieren, man ist der Ansicht, ich sei einer der brillantesten Mathematikstudenten hier in Leiden. Gestern habe ich es bereits vertraulich vom Dekan erfahren, und heute Morgen kam der Brief mit der offiziellen Bestätigung. Wie findest du das? Es ist wirklich unglaublich! Jouri Kerkmeester von Goeree-Overflakkee. Unglaublich!«
»Mich wundert das nicht. Du warst schon in der Schule brillant.«
»Ach was, du warst in allen Fächern besser, du hättest Mathematik studieren sollen, dann würden wir jetzt zusammen nach Harvard gehen. Wie werde ich dich dort vermissen! Wir müssen einander oft schreiben. Mensch, Harvard, ich kann es einfach nicht fassen. Eigentlich müsste ich jetzt erst Frederica schnell anrufen.«
»Wieso? Bist du immer noch mit Frederica zusammen?«
»Warum sollten wir nicht mehr zusammen sein?«
»Schon seit Monaten habe ich nichts mehr von ihr gehört.«
»Was hätte ich dir denn von ihr berichten sollen?«
»Das ist nicht die Frage. Die Frage ist: Warum hast du kein Wort über sie verloren?«
»Weil ... müssen wir das jetzt besprechen?«
»Fahr fort: Weil ...
Er seufzte und murmelte dann: »Weil ich den Eindruck habe, es schmerzt dich noch immer, dass Frederica dich hat sitzen lassen, um mit mir ...
»Sie hat mich nicht sitzen lassen. Ich war nur ihr Schleichweg zu dir.«
»Meiner Meinung nach ist dir das Ganze doch ziemlich nahegegangen. Ich tröste mich immer mit dem Gedanken, dass Frederica nichts für dich wäre.«
»Aber für dich?«
»Nein, für mich eigentlich auch nicht, aber wir wollen ehrlich sein: Ich habe dich eindringlich vor ihr gewarnt, ich habe gesagt: ›Sie verdreht dir den Kopf, und dann bin auch ich der Dumme, dann geh auch ich vor die Hunde.‹ Aber nein, du musstest sie unbedingt küssen, und darum ... und jetzt ... jetzt bin ich ...
Er starrte mich an, als wollte er mir die Schuld geben. Doch ehe ich etwas zu meiner Verteidigung vorbringen konnte, schaute er mich mit seinen braunen Augen bereits wieder mitleidsvoll an und sagte: »Soll ich dir einmal einen guten Rat geben? Brillant bin ich als Mathematiker, vielleicht bin ich es ja auch in Herzensangelegenheiten. Du studierst Biologie, doch das tust du mit dem Hirn, nicht mit dem Herzen. Deine ganze Liebe gehört der klassischen Musik. Such dir ein Mädchen, das klassische Musik ebenso liebt wie du, dann wirst du glücklich werden.«
Ehe ich ausrufen konnte: »Glücklich werden? Das will ich gar nicht! Ich will im Leben Großes erreichen!«, war er bereits aufgestanden und zur Tür gegangen. Er sagte: »Ich kaufe noch schnell auf der Hogewoerd eine Flasche Champagner. Stell du schon mal Stühle auf den Steg.«
Als wir uns dort kurze Zeit später niederließen und ich gierig mein Glas Champagner hinuntergestürzt hatte, schien es, als überkäme mich der Geist Gottes, der seinerzeit über den Wassern geschwebt hatte, sodass mein Geist nun über das trübe Wasser des Nieuwe Rijn flatterte. Wie heiter ich mich plötzlich fühlte, und es war auf einmal nicht mehr so wichtig, dass Julia mich, wie eine Besessene winkend, verlassen hatte. Nach dem zweiten Champagner auf leeren Magen war mir, als schwebte der Steg selbst. Die Wolken zogen nicht von Westen nach Osten am Himmel entlang, sondern von oben nach unten.
Ich hörte mich selbst sagen: »Frederica wird nicht begeistert sein, wenn du für ein Jahr nach Harvard gehst.« Und aus der Ferne
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