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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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Mikroskop ein. Seine Stimme war wie eine kleine Eisensäge. Niemand hatte ein Mittel gegen diese Wortflut. Eine schnippische Mitstudentin versuchte ab und zu, ihn zu stoppen, doch auch sie sah sich anschließend mit einer Sturzflut von langen Sätzen konfrontiert. »Ja, ja, ich gebe zu, dass mein Idiom durchgehend hochtrabend, umständlich und kompliziert wirkt und dass mein Wortschatz ungewöhnlich ist, aber das Dasein lässt sich nun mal nicht in einfache Formulierungen fassen«, sagte er.
    Bereits 1962 war Toons Rücken so krumm wie eine Sichel. Sein kugelrunder Kopf mit der weit hervorragenden Brille war mit einer gewaltigen Menge schneeweißer Haare bedeckt, die an seinem Kinn ebenso üppig sprossen wie auf dem Schädel. Auch neben seinen bleichen Wangen wucherten so viele weiße Locken, dass seine Ohrmuscheln nicht zu sehen waren. Schon damals wusste er alles über sämtliche Invertebrata, die sich in niederländischen Gewässern herumtrieben. Seine Spezialität war der Schiffsbohrwurm. Schon bald sprach sich herum, dass sein Name in einem Standardwerk über die Teredinidae in einer Fußnote erwähnt wurde!
    Es gab das Gerücht, er habe keine Freunde. Niemand wollte Umgang mit so einem seltsamen, eigenwilligen Besserwisser pflegen. Der Rektor des Leidener Gymnasiums hatte einen unserer Professoren vor ihm gewarnt: »Erteile ihm nie das Wort, denn dann bekommst du es nie wieder.«
    Sehr rasch zeigte sich, dass Toon erstaunlich schlau war. Ich bin nie, Jouri einmal ausgenommen, einem intelligenteren Menschen begegnet. Und dennoch hatte er, vielleicht weil er so unglaublich pfiffig war, ein Handicap: Dummheit lag jenseits seines Horizonts. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es Hirne gibt, die schlecht funktionieren. Wenn er etwas erklärte, ging er davon aus, dass sein Gesprächspartner von rascher Auffassungsgabe war. Darum konnte ihm kaum jemand folgen, wenn er verzweifelt versuchte, etwas zu erläutern. In seiner Verzweiflung ging er dazu über, die Menschheit in »Dummköpfe« und »Durchblicker« zu unterteilen. Der letzten Kategorie gehörten seiner Meinung nach erschreckend wenige Personen an.
    Während meines zweiten Studienjahrs ereignete sich um die Weihnachtszeit ein großes Wunder. Es zeigte sich, dass Toon mich in die sehr exquisite, äußerst kleine Gesellschaft der Durchblicker aufgenommen hatte. Natürlich weckte allein schon die Tatsache, dass er so unerschrocken zu verstehen gab, keine weiteren Mitstudenten unseres Jahrgangs in diese Gruppe aufnehmen zu wollen, große Verärgerung.
    Im ersten Studienjahr erschien es wenig wahrscheinlich, dass ich mich irgendwann einmal mit Toon anfreunden würde. Für Musik interessierte er sich überhaupt nicht. Nach eigener Aussage war er ebenso tontaub wie ein Manteltier. Die Literatur verhöhnte er genauso tollkühn wie Jouri, allerdings mit anderen Argumenten. »In Romanen wird die Welt beschrieben, als sei sie deterministisch«, sagte er, »während das ganze Leben stochastisch ist und aus Punktprozessen und Markowketten besteht. Außerdem treiben die Romanautoren permanent und ohne genauer definierte oder auch nur hinreichend umschriebene Randbedingungen auf unverantwortliche Weise Schindluder mit dem Zeitrahmen. Einmal beschreiben sie etwas, das zwei Minuten dauert, auf fünf Seiten und dehnen dabei den Zeitrahmen irrsinnig in die Länge, und im nächsten Moment schreiben sie, den Zeitrahmen dabei auf ein Minimum zusammenschrumpfen lassend: Sieben Jahre waren vergangen.« Lyrik bezeichnete er als Nabelschau. In der 21. These seiner Doktorarbeit merkt er dazu spitz an: »Die einzige Welterkenntnis, die man durch Nabelschau erwerben kann, ist Erkenntnis über den Nabel.«
    Während unseres zweiten Studienjahrs saß ich allerdings einige Monate lang jeden Nachmittag im Praktikum Pflanzenanatomie neben ihm und lernte ihn besser kennen. Am Ende dieser langen Seminare lud er mich ein, mit zu ihm nach Hause zu gehen. Er wohnte bei seinen Eltern am Pieterskerkhof, oder besser gesagt: bei Toon sen. und Edith. Schon die Tatsache, dass er seine Eltern mit dem Vornamen anredete, war für mich etwas Unvorstellbares. So etwas gab es in Maassluis nicht. Ach, alles, was sich dort am Pieterskerkhof vor mir entfaltete, war von einer glanzvollen Ungewöhnlichkeit. Wenn man den Flur betrat, fiel der Blick auf allerlei malaiische Dolche, Säbel, Klewangs, Hirschfänger, Pistolen, Bajonette und Wurfspeere, die so kunstvoll an der Wand befestigt waren, dass sie eine riesige

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