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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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ineinandergreifende Waffencollage bildeten. Toons Großmutter, eine rüstige alte Dame, die ich auch einige Male erleben durfte, hatte ambonesische Vorfahren. Daher die ganzen Waffen. Übrigens war die südmolukkische Herkunft von Toon der Grund für meinen Mitstudenten Gerard, ihn als »genetisches Monstrum« zu bezeichnen. Für ihn war es unbegreiflich, dass solch ein weißhaariger Albino von dunkelhäutigen Vorfahren abstammen sollte.
    Auch Toons Mutter sah man nicht an, dass sie die Enkeltochter eines ambonesischen Großfürsten war. Sie war blond, hatte sehr helle Augenbrauen und lange, ebenfalls sehr helle Wimpern, die fast wie Schmetterlinge aussahen. Sie waren so lang, dass man die Augen dahinter kaum erkennen konnte. Wenn sie redete, und sie redete mindestens ebenso viel wie ihr einziger Sohn – man lauschte also immer einem Duett, wenn man mit den beiden in einem Zimmer war, denn das Verb »schweigen« kam in ihrem Wortschatz nicht vor –, dann flatterten ihre Hände auf und ab wie die noch nicht voll ausgebildeten Flügel eines jungen Vogels, der Flugübungen macht. Am merkwürdigsten war ihre Oberlippe. Dort befanden sich noch mehr blonde Wimpern.
    Inmitten dieser Wortflut musste Toons Vater sich behaupten. Er war alt, steinalt sogar. Früher einmal war er Turnlehrer gewesen. Bereits lange vor der Sturmflutkatastrophe im Jahr 1953 hatte er das Pensionsalter erreicht. Ganz selten äußerte er einen kurzen Satz, doch meistens saß er da und brummte leise vor sich hin. Es war unmöglich, etwas zu sagen, wenn Edith und Toon zusammen redeten. Edith sagte übrigens immer wieder zu Toon: »Jetzt halt mal deinen Mund!«
    Es war nie geplant gewesen, dass Toons Vater und seine Mutter heiraten würden. Edith war mit dem Sohn des Turnlehrers verlobt. Dieser Sohn wurde Toon Eins genannt. Zu Beginn des Kriegs war Toon Eins ums Leben gekommen, und da hatte Edith eben dessen Vater, Toon Null, geheiratet. Aus dieser erstaunlichen Verbindung war Toon Zwei hervorgegangen. Da Edith sich beruflich auch mit Körperbewegung beschäftigte – sie hat mich einmal gebeten, irgendeine Art von Gesundheitsgymnastik, die sie wöchentlich mit einer Gruppe von Mädchen betrieb, durch Klavierspiel im Dreiviertel- und Viervierteltakt auszuschmücken –, muss es für Toons Eltern ein schwerer Schlag gewesen sein, als sie entdeckten, dass sie einen Sohn gezeugt hatten, der von Sport und Gymnastik nichts wissen wollte und sich stattdessen von Kindesbeinen an nur für Schiffsbohrwürmer und Punktprozesse interessierte und am Zeitrahmen rütteln wollte.
    In der großen, aber dunklen Mansarde, die Toon bewohnte, befanden sich eine ganze Reihe von Aquarien. Darin hielt Toon Schiffsbohrwürmer, Seeanemonen und rote Seescheiden, die ständig mit Pipetten und Pinzetten versorgt werden mussten. Die Aquarien blubberten und rauschten beruhigend. Mitten im Zimmer stand ein großer hölzerner Hund, aus dessen Rücken eine kleine Metallkette hing. Wenn man daran zog, öffnete der Hund das Maul und stieß ein furchterregendes Knurren aus. Auf einem kleinen Tisch befand sich ein Käfig mit einer einsamen weißen Maus. Diese Maus wurde zu Toons großem Erstaunen immer wieder schwanger. Wir tauften sie daher Maria.
    In der Dachrinne züchtete Toon in länglichen Blumentöpfen Origanum vulgare , auch wilder Majoran genannt. Warum er ausgerechnet diesen Lippenblütler so hartnäckig zum Blühen zu bringen versuchte, enthüllte er mir an einem der vielen Abende, die wir in seiner Mansarde verbrachten. Er war, so erzählte er mir, seit Jahren in ein Mädchen verliebt, das Marjolein hieß. Leider habe ich diese Marjolein nie zu Gesicht bekommen. Ich bin auch gar nicht so sicher, ob es sie überhaupt gab. Doch wie dem auch sei: Wenn Toon sie, so hat er berichtet, samstags auf dem Leidener Markt gesehen hatte, war er tagelang fix und fertig.
    Was den Besuchen bei Toon jedes Mal eine zusätzliche Dimension verlieh, war der Umstand, dass allabendlich gegen neun im Nebenhaus begeisternde Klaviermusik erklang. Ein majestätisches Klavierkonzert. Ich kannte es damals noch nicht, aber ich fand es wunderbar, wie es durch die Mauer hindurch und von draußen über die Dachrinne und den wilden Majoran in Toons wundersame Seeanemonenwelt gelangte. Ich summte es mit, während Toon seine Anemonen und Manteltierchen reinigte. Was ich hörte, aber das habe ich erst sehr viel später herausgefunden, war das Zweite Klavierkonzert von Rachmaninow. Wenn ich es heute höre, denke

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