Schneeflockenbaum (epub)
keine Mühe zu groß.«
Ich starrte sie eine Weile an und sagte dann: »Trotzdem muss es dir auch Spaß gemacht haben, dich so auffällig herauszuputzen. Du siehst atemberaubend aus.«
Sie errötete tatsächlich, fasste sich aber sehr schnell und erwiderte spitz: »Das habe ich nur für Jesus getan.«
»Bist du sicher? Hat es dir nicht auch gefallen, sehr gut gefallen sogar? Vielleicht wolltest du ja nur gern wieder einmal aussehen wie ein Straßenmädchen. Du hast dich jedenfalls schwer ins Zeug gelegt. Sogar die Fingernägel deiner Schwester hast du aufgeklebt!«
»In Harvard hatten fast alle Campusmädchen solche Nägel«, sagte sie entrüstet.
»Ich geh auch nach Harvard«, sagte ich spöttisch.
»Es kam mir vor allem darauf an, deine Aufmerksamkeit zu erregen«, sagte sie mürrisch, »ich hatte dich schon ein paar Abende beobachtet, ich fand dich nett und rührend, ich wollte dich auf den rechten Pfad zurückführen, aber du hast mich nicht einmal bemerkt, also habe ich mein Campusoutfit, meine Flirty-Fishing -Uniform, mal wieder angezogen ... ich habe zu Jesus gebetet, und er hat zu mir gesagt: ›Putz dich so schön wie möglich heraus.‹«
»Und dann hast du gesagt: ›Herzlich gern, Jesus, denn tief in meinem Herzen will ich eigentlich so nuttig wie möglich herumlaufen.‹«
»Schweig«, sagte sie, »deine Worte werden dir vom Satan eingeflüstert, wirklich ... ich ... ich habe den ganzen Tag mit mir gerungen und den Herrn gefragt: ›Soll ich hier genauso herumlaufen wie in Harvard? Mit Lippenstift, toupiertem Haar und Eyelurenägeln?‹ Und darauf erwiderte der Herr: ›Ja, Tina, es muss sein, denn diesen Jungen, diesen lieben Jungen, den musst du auf den rechten Pfad zurückführen.‹«
»Ich geh dann mal«, sagte ich.
»Jetzt schon?«, fragte sie erschrocken. »Nein, nein, der Abend hat erst angefangen. Lass uns erst noch ein ordentliches Stück aus der Bibel lesen, aus einem der Briefe des Apostel Paulus, und dann beten wir zusammen, wir flehen den Herrn an, dass du dich bekehrst und Mitglied bei Ichthus wirst.«
Während ich ihr fachmännisch toupiertes Haar und ihre wunderbaren spitzen, tiefrosafarbenen, langen Fingernägel betrachtete, dachte ich: Sie mag sich selbst einreden, dass sie sich auf Bitten Jesu so herausgeputzt hat, aber irgendwo tief in ihrem Innern verbirgt sich eine Frau, die sich vielleicht ebenso leidenschaftlich danach sehnt zu vögeln wie ich, und darum hat sie sich so aufgedonnert, Jesus hin oder her. Wenn ich nun also die Lesung aus dem Neuen Testament geduldig über mich ergehen lasse und anschließend auch noch geduldig mit ihr für meine Bekehrung bete, wer weiß, vielleicht wird dann ja doch noch was draus.
Darum blieb ich vorerst sitzen und starrte wie gefesselt auf ihre Fingernägel.
Laut las sie einige Kapitel aus dem zweiten Paulusbrief an die Thessalonicher. Dann sagte sie fromm: »Nun werde ich ein Gebet für dich sprechen«, und ich erwiderte: »Gut, lass uns die Hände ineinanderlegen.«
Misstrauisch sah sie mich kurz an, nahm dann aber meine Hände in ihre, und wir falteten sie zu einem großen Ball zusammen. Ich spürte ihre spitzen Nägel und seufzte auf.
Sie betete so lange, dass meine Hände zu kribbeln begannen. Schließlich erklang das erlösende »Amen«. Dann sagte sie: »Hast du Lust, mit zu Ichthus zu gehen? Wir haben heute Abend eine Versammlung.«
»In Ordnung«, sagte ich, immer noch davon ausgehend, dass wir nach der Versammlung Zeit für die schändlichen Lüste haben würden, von denen sie so verächtlich gesprochen hatte.
»Mann, wie toll, dass du mitgehst! Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Der Herr Jesus zieht noch an dir, jawohl, er zieht noch an dir. Hier, noch eine Tasse Tee, trink noch etwas, dann werde ich mich in der Zwischenzeit ein bisschen zurechtmachen, kurz etwas Anständiges anziehen und das Gesicht waschen. Du verstehst bestimmt, dass ich dort so nicht auftauchen kann. Die Leute von Ichthus sind noch nicht reif für Flirty Fishing , aber Jünger von David Berg haben mir Prospekte und Broschüren versprochen, und ich hoffe, dass es mir damit gelingt, auch hier Flirty Fishing einzuführen. Welch ein Ansporn es wäre, wenn du mir beistehen würdest; zu zweit hat man immer einen besseren Stand.«
»Wenn du Flirty Fishing bei Ichthus einführen willst, darfst du dich jetzt nicht anständig anziehen. In Harvard war dies doch dein normales Verkündigungsoutfit?«
»Ja, schon, aber hier geht das wirklich
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