Schneeflockenbaum (epub)
Getreidekorn anbohrt, in dem sich ein Kornkäfer verschanzt hat. Immer noch sah ich gestochen scharf die Bilder vor mir, die am Tag über meine Netzhaut geglitten waren. Schlupfwespen trommeln mit ihren dünnen Beinen auf ein Getreidekorn und stellen so offenbar fest, ob sie es mit einem unversehrten Korn zu tun haben oder mit einem, in dem ein Kornkäfer haust. Ist Letzteres der Fall, bringt die Wespe ihren Legestachel in Stellung. Der Kornkäfer hat das Trommeln auch gehört. Offenbar weiß er, dass er in großer Gefahr ist, denn er krümmt sich und wartet. Flüchten kann er nicht, weil er sich vollgefressen hat und nun im Korn feststeckt. Wenn die Schlupfwespe zu bohren beginnt, hat er noch eine kleine Chance. In dem Moment, wo der Legestachel durch die Kornschale hindurch ins Innere eindringt, muss der Käfer das Ende des Legestachels zwischen seinen Kiefern zermalmen. Dies gelingt allerdings nur höchst selten, denn der Kornkäfer weiß nicht genau, wo der Stachel die Schale durchstößt. Meistens kommt er zu spät, und der Legestachel dringt ungehindert in seinen Körper ein, wodurch der Käfer gelähmt wird. Die Schlupfwespe legt ihre Eier in den Kornkäfer, und wenn die Jungen schlüpfen, futtern sie den gelähmten, aber immer noch lebenden Käfer von innen her auf. Oh, oh, wie wunderbar die Natur doch ist! Und Gott sah, dass es gut war.
An Kornkäfer, Schlupfwespen und Legestachel denkend und mich über den Geist – eines Schöpfers? – wundernd, der sich solche »intelligent design«-Grausamkeiten in beinahe unendlicher Zahl ausgedacht hat, spazierte ich durch den Maarsmansteeg in Richtung Visbrug. Am frühen Abend hatte es geregnet. Die Straßen glitzerten, und die Schaufenster waren noch mit Regentropfen besprenkelt, die langsam herunterrannen.
Als ich aus dem Maarsmansteeg kam, packte eine Bö, die über den breiten Wassern des Nieuwe Rijn Fahrt aufgenommen hatte, die Schöße meines Mantels. Einen Moment lang musste ich mich gegen den Wind stemmen. Die schweren Wolken hingen tief, sodass es, obwohl hier und da Straßenlampen brannten, erstaunlich dunkel war.
Ganz allein und mit, wie Herman de Man sagen würde, »lustwandelndem Schritt« kam sie den langen, abschüssigen Weg, der vom Nieuwe Rijn zur Visbrug führt, Richtung Hoogstraat herauf, das Superluder meiner Träume. Ein riesiger, stark toupierter Haarschopf, ein kurzes Mäntelchen aus Kunstpelz, ein ultrakurzer Rock, schwarze Netzstrümpfe, hohe Absätze, tiefrosa gefärbte Lippen und dazu noch lange, spitze, ebenfalls tiefrosa gefärbte Fingernägel. Mir blieb das Herz stehen.
Sie sah mich kurz an und ging an mir vorbei in die Hoogstraat, in Richtung Donkersteeg. Beim erstbesten Schaufenster blieb sie stehen und beobachtete mich aus den Augenwinkeln. Erregung wogte durch meinen Körper, meine Knie zitterten. Jetzt oder nie, dachte ich, und mit bleischweren Beinen machte ich ein paar Schritte auf sie zu. Sie schlenderte äußerst langsam zum nächsten Schaufenster. Wieder stolperte ich unendlich behäbig hinter ihr her, bis ich schließlich neben ihr stand.
»Na«, sagte sie, »allein unterwegs?«
»Ja«, keuchte ich heiser, »du auch?«
»Ja«, sagte sie.
»Sollen wir ein Stück zusammen spazieren gehen?«
»Meinetwegen«, antwortete sie.
Wir gingen in den Donkersteeg. Was jetzt, dachte ich verzweifelt, was jetzt? Zum Van-der-Werff-Park? Der liegt aber in der anderen Richtung.
Einfach schweigen, das ging nicht, so viel war klar. Aber was sollte ich um Himmels willen sagen? Mir fiel nichts anderes ein als: »Was für herrliche Fingernägel du hast.«
»Findest du? Erschrick nicht, die sind nicht echt. Mein Schwager hat sie für meine Schwester aus England mitgebracht. Eyelure, longline. Meine Schwester war total sauer auf ihren Mann. ›Du glaubst doch nicht, dass ich mir solche abscheulichen Nägel auf die Finger klebe‹, hat sie gesagt und wollte sie in den Mülleimer werfen. Ich stand daneben und bat darum, sie behalten zu dürfen. So bin ich zu den Fingernägeln gekommen.«
»Sie sind phantastisch.«
»Finde ich auch.«
Dann herrschte Schweigen. Wir verließen den Donkersteeg und bogen in die Haarlemmerstraat ein.
»Gehst du oft abends allein spazieren?«, wollte sie wissen.
»Ja.«
»In der Hoffnung, ein Mädchen aufzureißen?«
»Ja«, seufzte ich.
»Dann ist dir das heute Abend gelungen. Wohin gehen wir. Zu dir? Zu mir?«
»Ich wohne auf der Uiterste Gracht.«
»Ich habe ein Häuschen hier ganz in der Nähe, in der
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