Schneegeflüster
bedeutungsvolle Blicke. »Sie wurden Opfer des Absturzes einer Sportmaschine. Der Pilot müsste übrigens jeden Moment hier eintreffen …« Ich schnappe nach Luft, kralle meine Fingernägel in den Samtbezug und versuche ruhig zu bleiben.
Wie war das noch in der Yogastunde?
Auf fünf durch die Nase einatmen, und auf fünf durch den Mund ausatmen. Ganz ruhig.
»Was zum Teufel hatte der Typ an Weihnachten da oben zu suchen?«, höre ich mich plötzlich kreischen und stelle gleichzeitig fest, dass es im Himmel gar kein da oben mehr gibt. Und hoffentlich handle ich mir jetzt keinen Ärger ein, weil ich das Wort »Teufel« in den Mund genommen habe.
»Das wissen wir noch nicht genau«, informiert mich das junge Mädchen und sieht auf einmal sehr streng aus. »Wenn es ein Unfall war, werden Sie sicher bald Gelegenheit haben, mit dem Piloten über dieses … äh … Missgeschick zu sprechen.«
Missgeschick? Das junge Ding da nennt mein verfrühtes Ableben ein Missgeschick?
»Wenn der Herr sich allerdings absichtlich etwas antun wollte«, fährt das Mädchen fort, »gibt es noch einige Fragen zu klären, bevor wir entscheiden, was mit ihm wird.«
Aha, aha, aha. Offenbar gibt es so etwas wie ein himmlisches Tribunal, das zwischen Unfall und Suizid unterscheiden muss. Na schön. Mir soll’s recht sein. Wenn der Typ mich auf dem Gewissen hat, weil ihm auf Erden etwas über die Leber gelaufen ist, dann bekommt er es mit mir zu tun. So viel steht fest.
»Ich würde vorschlagen, wir verschieben die Frage nach der Schuld und wenden uns schöneren Dingen zu. Ich bringe Sie jetzt zu Ihren Liebsten«, mischt sich nun der Mann im Mantel (offenbar ist er hier der Boss) ins Gespräch und deutet auf ein goldenes Gatter, hinter dem ich schemenhaft die Silhouetten von drei Männern erkenne.
Das sind doch nicht etwa …?
Big Boss mustert mich und runzelt die Stirn. »Das war es doch, was Sie wollten, oder nicht? Sie haben sich nach Ihrer Familie und Ihren verstorbenen Ehemännern gesehnt. Heute ist Weihnachten, da gehen alle Wünsche in Erfüllung. Freuen Sie sich denn gar nicht?«
Ich schweige. Das ist alles zu viel für mich: die Begegnung am Grab, der Flugzeugabsturz, mein Tod - und nun auch noch meine drei Ehemänner. Doch etwas im Gesicht von Big Boss sagt mir, dass ich jetzt nicht kleinlich sein darf, sondern mich lieber für dieses unerwartete Geschenk des Himmels bedanken sollte. Doch bevor ich das tue, muss ich noch etwas Dringendes erledigen. »Könnte ich wohl bitte mein Kosmetiktäschchen bekommen?«, frage ich das Mädchen. Schließlich will ich gut aussehen, wenn ich Alexander, Daniel und Thomas gegenübertrete.
Irre ich mich, oder hat sie gerade mit den Augen gerollt? Sei’s drum, ich bin nun mal eitel, daran hat auch mein Tod nichts geändert. Das Mädchen kramt umständlich in dem Korb, der wie durch Zauberhand wieder aufgetaucht ist, und gibt mir das Gewünschte. »Aber nur ausnahmsweise«, sagt sie streng, und nun finde ich sie gar nicht mehr so nett. Ich ziehe meine Lippen nach, trage ein wenig Rouge auf und fahre mir mit den Fingern durchs Haar. Eine Bürste hatte ich leider nicht in meiner Handtasche. Hätte ich gewusst, dass ich heute sterben würde, hätte ich natürlich effizienter gepackt.
»Okay, ich wär dann so weit!«, sage ich energisch und atme noch einmal tief durch. Wen von den dreien soll ich denn als Erstes begrüßen? Vielleicht in alphabetischer Reihenfolge? Oder lieber in der Reihenfolge unseres Kennenlernens?
Da in diesem Fall praktischerweise beides identisch ist, fällt die Entscheidung automatisch auf Alexander. Mein Herz schlägt etliche Takte schneller, als ich ihm in die Augen sehe. Vor mir steht ein Mann, der sich kein bisschen verändert hat. Er sieht exakt so aus wie an dem Tag beim Grillen, bevor die Wespe ihn stach: braungebrannt, das rötliche Haar durch die Sonne aufgehellt, strahlende blaue Augen - und Flipflops an den Füßen. »Hallo, Alexander«, begrüße ich ihn zögerlich. Irgendwie ist es mir peinlich, ihm in Gegenwart von Daniel und Thomas um den Hals zu fallen. Ich will ja schließlich nicht, dass einer von ihnen eifersüchtig wird und es womöglich noch zu Streit kommt. Also gebe ich ihm einfach die Hand.
»Hallo, Katja, schön dich zu sehen«, antwortet Alexander und holt hinter seinem Rücken einen Blumenstrauß hervor. Ranunkeln, Tulpen und Freesien - er hat es also nicht vergessen!
»Hi, Daniel«, wende ich mich nun Ehemann Nummer zwei zu, der im
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