Schneegeflüster
den Friedhof, anschließend zum Aufwärmen in die Badewanne und danach zu Anne. Ich schmunzle, als mir klar wird, dass »Wanne« und »Anne« sich reimen. Während mein Mund sich zu einem leichten Lächeln verzieht, spüre ich, wie ungewohnt diese Bewegung für meine Lippen ist. Ich hatte lange keinen
Anlass mehr, mich zu freuen. Es ist genau drei Monate her, dass mein Mann Thomas gestorben ist.
Zum Glück für ihn ging alles sehr schnell: eine Kreuzung, ein LKW, der die rote Ampel übersehen hatte, entsetzte Schreie, und schon war ich Witwe.
Ich seufze und versuche die Trauer abzuschütteln, die sich an mich heranpirscht und sich festsetzen will.
Aber nicht an diesem Tag! , sage ich wild entschlossen und recke das Kinn. Heute will ich Pause. Pause vom Kummer und Schmerz der vergangenen Wochen. Heute will ich mit Anne friedlich unter dem Tannenbaum sitzen und ausnahmsweise mal nicht nachdenken. Und nicht fühlen.
Eine echte Herausforderung an einem Tag wie Weihnachten, aber es wird schon irgendwie gehen. Schließlich kenne ich solche Situationen mittlerweile.
Man könnte beinahe sagen, ich habe eine gewisse Routine im Trauern …
Kurz vor vier bin ich endlich am Grab. Der Schnee liegt kniehoch, und in der Dämmerung kann ich es nur anhand des Steins erkennen. In den vergangenen Tagen hat es ununterbrochen geschneit. Ich habe zwanzig Minuten gebraucht, um mein Auto freizuschaufeln und das Eis von den Scheiben zu kratzen. Gedankenverloren wische ich mit meinem Handschuh aus knallrotem Kunstleder über den Marmorstein und lege nach und nach die Namen der Verstorbenen frei:
Martha und Robert Herrmann (meine Eltern)
Luisa und Karl Herrmann (meine Großeltern
väterlicherseits)
Inge und Walter Kämpf (meine Großeltern
mütterlicherseits)
Zärtlich streichle ich über die Inschriften und flüstere die Namen.
Jeden einzelnen.
Ich wünsche meinen Lieben frohe Weihnachten und erzähle, wie es mir so geht. Obwohl ich das gar nicht müsste, denn sie sind auf dem Laufenden, was mich und mein Leben betrifft.
Schließlich sind sie bei mir. Tag und Nacht.
Jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde.
Nun wischt die Hand in rotem Leder den Namen meines Mannes frei: Thomas. Thomas hat diese Handschuhe geliebt, ich habe sie bei unserer ersten Verabredung getragen. Zusammen mit einem knallroten Schal und einer knallroten Tasche aus Lackleder.
Thomas nannte mich lachend »Lady in Red«, fasste meine Hand und ließ sie von da an nicht mehr los. Bis zu diesem verhängnisvollen Montag vor drei Monaten.
»Hier, nehmen Sie, das wird Ihnen guttun!«, ertönt auf einmal die Stimme eines Mannes dicht neben mir. Ich zucke zusammen, denn ich habe niemanden kommen hören. Das ist ein Phänomen solcher Wintertage: Der Schnee stopft sich alle Geräusche in seinen großen weißen Schlund und verschluckt sie.
Vor mir steht ein Mann undefinierbaren Alters in einem grauen Wollmantel. Beide haben ihre besten Tage längst hinter sich.
Er streckt mir einen silbernen Flachmann entgegen: »Cognac. Gut gegen Kälte und gut für die Seele!«
Ich zögere einen Moment, denn der Fremde sieht alles andere als gepflegt aus.
Und Alkohol um diese Uhrzeit?
»Sie wollten es sich doch heute gutgehen lassen«, sagt der Mann im Mantel und lächelt. Zumindest vermute ich, dass er es tut, aber hinter seinem wilden Bartwuchs ist das schwer zu erkennen.
»Woher wissen Sie …?«, frage ich verwirrt. Der Fremde lacht und trinkt einen Schluck. Doch anstatt auf meine Frage einzugehen, wischt er mit einem sauberen Stofftaschentuch über den Flaschenhals. Ich denke: Was soll schon groß passieren, ich werde schon nicht sterben, und nehme einen Schluck.
Und dann noch einen. Tut gut. Sehr gut!
»Das sind ziemlich viele Tote, dafür, dass Sie noch so jung sind«, bemerkt der Unbekannte, während der Cognac sich seinen Weg durch mich hindurch bahnt.
»Ja, leider«, stimme ich zu und schließe für einen Moment die Augen. Vor mir tanzen die Gesichter meiner Eltern und Großeltern auf und ab, in ihrer Mitte Thomas, den keiner von ihnen je kennengelernt hat. »Und es sind sogar noch mehr«, sage ich schließlich mit gepresster Stimme und wische zwei weitere Namen frei: Alexander und Daniel.
Meine beiden Ehemänner vor Thomas.
»Sie sind zum dritten Mal Witwe?«, fragt der Fremde.
Ich nicke wortlos. Was soll ich auch sagen?
Dass ich, Katja Herrmann, 38 Jahre alt, aus irgendeinem Grunde ein echtes Händchen dafür habe, mir Männer auszusuchen, denen keine lange
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