Schneegeflüster
Getöse am Himmel, und plötzlich tut es einen Knall.
Einen sehr lauten Knall.
Und um mich herum wird alles schwarz.
Licht.
Starkes, gleißendes Licht.
Es blendet mich.
Doch seltsamerweise macht das nichts.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragt der Fremde, der auf einmal Schuhe anhat. Und nicht nur das: Sein Gesicht ist glatt rasiert, er wirkt jung und vital, sein Haar ist akkurat geschnitten, die Nägel frisch manikürt. Er trägt einen maßgeschneiderten Anzug, ein frisch gestärktes, blütenweißes Hemd - und eine schwarze Krawatte. Nur an seinen Augen erkenne ich den Mann vom Friedhof wieder. Sie sind dunkelbraun und gütig. Und wirken viel älter, als der Fremde jetzt aussieht.
Tja, wie fühle ich mich? Spontan würde ich sagen: gut. Wenn nicht sogar sehr gut. Leicht wie eine Feder, glücklich, zufrieden, geborgen und sicher.
»Wo bin ich?«, stelle ich die klassische Frage, während ich mich in einem Traum wähne. In einem Traum mit ziemlich seltsamer Kulisse. Oder warum sind plötzlich um mich herum lauter Wolken? Und Sterne? Ist zwar ganz hübsch, aber …
»Im Himmel«, lautet die lapidare Antwort eines jungen Mädchens, das mir einen geflochtenen Korb entgegenstreckt. »Bitte werfen Sie Ihre persönlichen Gegenstände hier hinein«, erklärt sie freundlich und strahlt mich an.
Ich schaue an mir hinab und überlege, was die junge Dame mit »Himmel« und »persönliche Gegenstände« meinen könnte.
Wie in Trance nestle ich an meiner Armbanduhr, meiner Kette und leere den Inhalt meiner Handtasche in den Korb, der mit jedem weiteren Gegenstand größer zu werden scheint.
Aber das ist sicher nur eine Täuschung, genau wie alles
andere. Denn wenn ich im Himmel wäre, müsste ich ja gestorben sein, oder?
In das geflochtene Etwas purzeln Kaugummis, Tempotaschentücher, ein Taschenbuch, Nasenspray, mein Kosmetiktäschchen, das Handy und der Timer.
»Ich glaube, das war’s«, sage ich artig wie ein Schulmädchen. Der Herr im Anzug beobachtet mich mit undurchdringlicher Miene.
»Nun fehlt nur noch der Personalausweis«, sagt er, und schon zerre ich beinahe schuldbewusst das amtliche Dokument aus meinem Filofax. Der Fremde nimmt es an sich und überklebt meine Adresse mit einem weißen Etikett.
»Was tun Sie da?«, will ich wissen. Es kann ja schließlich nicht jeder mit meinem Ausweis machen, wonach ihm gerade der Sinn steht. Auch nicht im Himmel!
»Ich trage Ihre neue Adresse ein«, entgegnet er ungerührt. »Milchstraße 8/Ecke Himmelspforte.«
Ich lasse seine Worte einen Moment auf mich wirken. Hübsche Adresse! Hübscher als Hahnenkammstraße 79, das muss ich schon sagen. Aber trotzdem.
»Bitte unterschreiben Sie, dass wir Sie ordnungsgemäß in Empfang genommen haben«, meldet sich nun wieder das Mädchen zu Wort und drückt mir einen schweren Füllfederhalter sowie ein Blatt Papier in die Hand.
Das wird mir jetzt allerdings ein bisschen zu bunt. Allmählich verliere ich die Lust an meinem Traum.
Bevor ich noch zum himmlischen Einwohnermeldeamt muss, sollte ich lieber wieder aufwachen, auch wenn es hier ganz kuschelig ist. Außerdem muss ich um acht bei Anne sein und will noch in aller Ruhe ihre Geschenke einpacken. Ist ja schließlich Weihnachten.
»Ich unterschreibe gar nichts, ich möchte hier weg. Und zwar sofort!«, sage ich energisch und will den Korb packen, um mir meine Sachen wiederzuholen. Doch sobald ich danach greife, löst er sich in Luft auf.
Nanu?
»Ich muss Sie enttäuschen, liebe Katja. Sie sind im Himmel und werden es noch eine ganze Weile bleiben. Schließlich sind Sie tot!« Ich lasse den Satz in mir nachklingen. Das darf nicht wahr sein. Das ist doch ein Scherz!
»Ich würde mich gern setzen, um diese Nachricht zu verdauen, aber im Himmel gibt es ja offenbar keine Stühle«, erkläre ich entnervt. Hoffentlich hört sich das nicht allzu vorwurfsvoll an.
Schließlich will ich nicht tot bleiben. Denn wie gesagt, Anne wartet, und ich darf sie heute Abend auf gar keinen Fall allein lassen.
Die freundliche junge Dame schnippt mit dem Finger und - schwupps - versinke ich in einem gemütlichen Sessel mit dunkelrotem Samtbezug, der mir verdammt bekannt vorkommt. Kunststück: Es ist ja auch der Sessel aus meiner Wohnung.
Doch weitaus mehr als die Frage, ob das Möbelstück ein Duplikat ist oder direkt aus meinem Zuhause entführt wurde, interessiert mich eines: »Wie bin ich eigentlich gestorben? Ich war doch kerngesund!«
Der Mann im Mantel und das Mädchen wechseln
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