Schneegeflüster
Sportdress vor mir steht, einen Squashschläger in der Hand. Was ihn allerdings nicht daran hindert, mir eine Schachtel Marzipanherzen zu überreichen, meine Lieblingssüßigkeit.
Ich muss schon sagen, die Läden hier oben sind wirklich gut sortiert!
Und nun zu Thomas … Natürlich ist er mir näher als Alexander und Daniel, das spüre ich sehr deutlich, als ich auch ihm die Hand gebe. Bei ihm fällt es mir besonders schwer, ihn nicht zu umarmen, denn das ist genau das, was ich mir seit drei Monaten sehnlich wünsche. Doch alles zu seiner Zeit!
Big Boss beobachtet uns, das sehe ich aus dem Augenwinkel.
Seine strenge Assistentin hat sich aus dem Staub gemacht. Vermutlich sucht sie gerade ein sicheres Versteck für meine Kosmetika. Oder probiert sie heimlich selbst aus.
»Ja, und nun?«, frage ich ein wenig hilflos. Was soll ich denn jetzt mit meinen drei Männern machen?
Und wo ist eigentlich meine Familie?
»Ich würde vorschlagen, Sie gehen ein bisschen spazieren. Ihre Ehemänner zeigen Ihnen bestimmt gern, wo Sie ab heute wohnen«, sagt Big Boss und lächelt gütig. »Übermorgen bringe ich Sie zu Ihrer Familie. Sie macht gerade einen längeren Ausflug, freut sich aber schon sehr auf Sie!« Ausflug? Spazieren gehen? Die sehen das ja alles sehr lässig hier oben.
»Also ich weiß nicht so recht …«, hebe ich zum Protest an. Ich kann doch jetzt unmöglich mit den dreien Smalltalk machen und über himmlische Wiesen laufen, als wäre das das Normalste der Welt. Ehrlich gesagt würde ich mich jetzt ziemlich gern hinlegen. Und mit Anne sprechen.
Beim Gedanken an Anne zucke ich zusammen. Irgendjemand muss ihr sagen, was passiert ist! Jemand muss sie trösten!
»Bevor wir mit diesem ganzen Besichtigungs-Zirkus beginnen, würde ich gern wissen, wie ich meiner besten Freundin sagen kann, dass es heute Abend nicht nur ein bisschen später wird, sondern dass ich gar nicht mehr komme«, sage ich so bestimmt wie möglich. Nur weil ich tot bin, heißt das noch lange nicht, dass ich alles mache, was man mir sagt. Habe ich auf der Erde schließlich auch nicht getan.
»Machen Sie sich keine Sorgen um Anne. Genau in diesem Moment ist ein Polizist auf dem Weg zu ihr. Wenn sie
es möchte, bekommt sie psychologischen Beistand. Und ein Beruhigungsmittel.«
»Woher weiß die Polizei Annes Namen und Adresse?«, frage ich verwundert. Big Boss lächelt. »Sie haben in Ihrem Filofax einen Vermerk, wer im Falle einer Notsituation benachrichtigt werden soll. Das war sehr klug und umsichtig von Ihnen!« Stimmt ja …
Ich denke zurück an den Abend nach Daniels Tod, als ich mich weinend bei Anne auf dem Sofa zusammengekrümmt hatte. Damals hatten wir beschlossen, uns gegenseitig als Kontaktperson einzutragen, damit wir im Notfall füreinander da sein konnten. Anne war geschieden, und Familie hatten wir beide nicht mehr.
»Mach dir keine Sorgen, du kannst jetzt ohnehin nichts ändern«, versucht Alexander mich zu beschwichtigen. »Lass uns jetzt mal lieber zu deiner Wohnung gehen und die Blumen ins Wasser stellen.« Nur halb überzeugt trabe ich hinter meinen drei Ehemännern her und sinniere darüber, ob man mich im Himmel wohl wegen Bigamie anklagen kann.
Oder hieße das in diesem Fall Trigamie?
Schweigend passieren wir Wohnblocks, Reihenhäuschen, Gärten, Parks und Stadtvillen. Je weiter wir gehen, desto bekannter kommt mir die Gegend vor. Schließlich halten wir an einer Weggabelung, die wie folgt beschildert ist: Milchstraße 8/Ecke Himmelspforte. »Wieso eigentlich ausgerechnet Nummer acht?«, frage ich, um mal ein bisschen Konversation zu betreiben. Seit ich das von Anne gehört habe, hat mich eine gewisse Lethargie befallen. Beinahe so, als hätte man auch mir ein Beruhigungsmittel verabreicht. Aber vielleicht ist das auch nur der Schock.
»Die Zahl acht steht für die Unendlichkeit«, erklärt Thomas.
Natürlich! Thomas wusste immer unglaublich viel. Es gab kaum ein Wissensgebiet, in dem er sich nicht auskannte. Ganz anders als ich, die beim Trivial Pursuit eher der Typ für die Unterhaltungsfragen ist. Beziehungsweise war.
»So, dann wollen wir mal!«, sagt Daniel und steckt den Schlüssel ins Schloss. »Bist du bereit?« Ich nicke und schaue misstrauisch auf den Eingang. Die schmiedeeiserne Tür mit der Milchglasscheibe sieht genauso aus wie die zu meiner Wohnung auf der Erde. Auch drinnen sehe ich keinen Unterschied. Selbst der rote Lehnsessel steht wie immer an seinem Platz in meinem Arbeitszimmer. »Wie kann das
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