Schneegeflüster
und hat welliges dunkles Haar, das ihm in die Stirn fällt. Seine Augen sind, soweit ich das im Halbdunkel erkennen kann, grün.
Sein Alter schätze ich auf etwa fünfundvierzig.
Zum Glück steht in der Küche eine geöffnete Flasche Jahrgangs-Barolo; daneben zwei Gläser. Die sind neu , denke ich und bewundere das hauchdünne Glas und die filigrane Ziselierung. Kann es sein, dass das genau die Gläser sind, die ich neulich im Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts bewundert habe? »Vielen Dank, das ist mein Lieblingswein«, sagt Quirin und schafft es immer noch nicht, mich direkt anzusehen. Kein Wunder, schließlich hat er mich ja auf dem Gewissen! »Freut mich. Meiner übrigens auch«, antworte ich knapp und setze mich auf den Sessel gegenüber der Couch.
Seltsame Situation …
»Es tut mir wirklich leid, unendlich leid«, presst Quirin zwischen zwei Schluck Wein hervor. »Wenn ich doch nur die Zeiger der Uhr zurückdrehen könnte!«
»Tja, das wäre mir ehrlich gesagt auch lieber! Aber sagen Sie mal: Was hatten Sie eigentlich an Heiligabend in einem Flugzeug zu suchen? Wollten Sie sich …?« Ich wage es nicht, den Satz zu beenden, denn Quirin sieht so schon gestresst genug aus.
»Nein, nein, ich wollte mich nicht umbringen, falls Sie das denken. Die Maschine hat mir mein Vater zu Weihnachten geschenkt. Er ist mittlerweile zu alt, um sie selbst zu fliegen. Seit ich denken kann, hat er daran herumgebastelt. Und als ich alt genug war, habe ich ihm dabei geholfen.«
»Aber Sie sind schon im Besitz eines Pilotenscheins?«, frage ich vorsichtig und fühle, wie der Wein mein Herz erwärmt. Oder ist es eher die Geschichte, die mich anrührt?
Quirin strafft seinen Oberkörper und wirkt zum ersten Mal souverän. Was ihn unvermutet attraktiv macht. »Aber natürlich! Ich bin übrigens Berufspilot und fliege für Lufthansa.«
»Aber wie konnte dann überhaupt so etwas passieren?«, bohre ich nach. »Und wieso mussten Sie ausgerechnet über den Friedhof fliegen?«
»Ich nehme an, es war ein Motorschaden. Das Dumme ist, dass ich mich an nichts mehr erinnern kann. Ich weiß nur noch, dass ich Kurs auf die Grabstätte meiner Mutter genommen habe, weil ich ihr Frohe Weihnachten wünschen wollte. Sie hat das Fliegen und unsere Cessna sehr geliebt.«
In meinem Hals bildet sich ein Kloß. Das Leben geht manchmal wirklich seltsame Wege …
Und dann kommt mir ein Gedanke.
»Haben Sie zufällig kurz vor dem Absturz einen alten Mann mit schmuddeligem Wollmantel und Rauschebart gesehen?«
Quirin setzt sein Glas ab und scheint nachzudenken.
»Ja … habe ich … er stand in der Nähe der Startbahn und winkte mir zu. Ich habe mich gewundert, dass noch jemand außer mir so blöd ist, an einem derart kalten Tag vor die Tür zu gehen. Noch dazu an Weihnachten. Nachdem ich gestartet
war, habe ich noch einmal zu ihm hinübergesehen, und ich könnte schwören, dass der Mann noch nicht einmal Schuhe anhatte.«
Nun bin ich aber platt. Das ist ja genauso wie bei mir!
Scheint, dass Big Boss ein Engel ist, der die Toten in den Himmel geleitet, und kurz, bevor es so weit ist, noch ein Schwätzchen mit ihnen hält.
Oder er ist der Weihnachtsmann.
Immerhin hat Big Boss ein paarmal betont, dass ich mir ja schließlich gewünscht hätte, meine Lieben wiederzusehen.
»Darf ich Sie noch etwas fragen?« Meine Hand zittert vor Aufregung, als ich uns beiden nachschenke.
»Haben Sie sich etwas gewünscht, kurz bevor Sie gestartet sind?« Diese Frage scheint Quirin verlegen zu machen. Er nestelt nervös am Kragen seines karierten Flanellhemds herum, das übrigens sehr kuschelig aussieht. »Ja, das habe ich. Schließlich ist ja Weihnachten.«
»Mögen Sie mir verraten, was es war?« Bestimmt hat auch Quirin den Fehler gemacht, seine Mutter sehen zu wollen …
»Ehrlich gesagt ist das eine sehr, sehr persönliche Sache, über die ich nicht sprechen möchte. Wenn das für Sie in Ordnung ist«, antwortet er.
Ich bin verwirrt. Und neugierig. Wir sind tot und im Himmel. Welcher Wunsch könnte so peinlich sein, dass man sich an einem Ort wie diesem dafür schämt?
»Nun ja, das respektiere ich natürlich«, antworte ich, wenngleich ein bisschen unzufrieden. »Dann lassen Sie uns eben über etwas anderes sprechen. Erzählen Sie mal: Wo sind Sie untergebracht?«
Quirin freut sich offenbar über den Themenwechsel und
wird gesprächig. Er erzählt mir von einem lauschigen Waldgrundstück mit Blick auf einen plätschernden Bach, auf dem ein
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