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Schneegeflüster

Titel: Schneegeflüster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind , Rebecca Fischer , Steffi von Wolff , Andrea Vanoni
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Arm. In dem Augenblick trifft es mich wie ein elektrischer Schlag, ein Schmerz, nein, eher die Angst vor einem Schmerz. Der Körper erinnert sich, der Körper ist ein Elefant, und gleich darauf zieht das Gehirn nach und zeigt mir lockige blonde Haare hinter den dickeren grauen, einen röteren Mund und Sommersprossen, die jetzt nicht mehr da sind.
    »Adam?«, sage ich, und wie vom Grund eines trüben Sees taucht das Gesicht von damals auf, das Gesicht des Jungen, der mich geschlagen hat.
    »Das ist unglaublich«, sage ich, »ein unglaublicher Zufall.«
    Sie sind von Ihrer ersten Liebe geschlagen worden?, fragen die Therapeuten und versuchen zu verbergen, dass sie hochzufrieden sind. Für sie passt das ganz wunderbar zusammen, dass ich mir nach der Tortur, der mich meine gefühlskalten
Eltern ausgesetzt haben, einen ausgesucht habe, der mich schlägt.
    »Nicht richtig geschlagen. Geboxt«, erkläre ich und zeige ihnen die Stelle in der Mitte vom Oberarm, wo er hingeboxt hat. »In der Art, wie Männer sich gegenseitig auf den Arm boxen, als Zeichen, dass sie Kumpels sind, nur viel fester.«
    Beim ersten Mal war es harmlos, aber er hat es jeden Tag gemacht, jeden Tag einmal. Nach ein paar Malen hat es so wehgetan, dass mir die Tränen gekommen sind. Mit der Zeit hat mich immer, schon bevor er zugeschlagen hat, ein blödsinniges Zittern überfallen, eine Welle der Angst, die die Wirbelsäule hinaufgelaufen ist. Und genau das habe ich jetzt wieder gespürt, nach fast dreißig Jahren. Ich weiß nicht, ob ihm damals klar war, dass er mich gar nicht mehr hätte schlagen müssen. Er hat es jeden Tag gemacht, vom ersten Tag nach den Weihnachtsferien an bis zum Sommer. Und da steht er jetzt vor mir, mit einem grauen Pferdeschwanz, und lächelt mich an.
    »So unglaublich ist das nicht«, sagt er, »in der Innenstadt läuft man jedem früher oder später einmal über den Weg.«
    »Aber ich lebe schon lange nicht mehr hier«, sage ich.
    Meine bestellte Torte ist nicht da, es ist etwas schiefgegangen. Die Verkäuferin bietet mir Ersatz an, Kunstwerke mit Engeln und Sternen aus Zuckerguss, eine ganze Krippe mit Ochs und Esel aus Marzipan, ich kann nicht sehen, ob das Jesulein auch essbar ist. Es ist ihr nur schwer begreiflich zu machen, dass ich eine Torte brauche, die nichts Weihnachtliches an sich hat. Endlich hat sie eine Idee, sie holt eine Obsttorte für Diabetiker aus dem Kühlraum, und die nehme ich.
    Adam folgt mir hinaus auf den Kohlmarkt, und wir bleiben mitten im Gedränge der verzweifelten Geschenksucher,
für die es schon fast zu spät ist, verlegen nebeneinander stehen. Jedes Mal, wenn sich die Tür eines Ladens öffnet, weht eine Wolke »Jingle Bells« oder »Last Christmas I Gave You My Heart« heraus und vermischt sich dort, wo wir stehen, mit dem »Rednosed Reindeer« zu einer beängstigenden Kakophonie.
    »Ich würde gern etwas mit dir trinken gehen«, sagt Adam, »aber jetzt hast du bestimmt keine Zeit.«
    »Doch, ich gehe erst am Abend zu meinen Eltern. Und du?«
    »Free as a bird«, sagt er mit dem dicken Akzent der Wiener, die meinen, sie sprächen wunderbares Englisch.
    »Na dann los«, sage ich. Und ohne uns abzusprechen gehen wir in Richtung Eislaufverein, zum Cafe Dolce, dorthin, wo alles begonnen hat.
     
    Mein Vater ist der Ansicht, dass was immer ich tue nur einen einzigen Grund hat: ihn zu ärgern. Ungefähr so, wie Freud meint, dass Sex der alleinige Grund aller Handlungen ist: egal ob ich Blumen pflücke, Schlittschuh laufe oder von Handtaschen träume, laut Freud geht es mir dabei immer um Sex; laut meinem Vater darum, ihn zu ärgern. Was beide sich nicht vorstellen können, ist, dass ich vielleicht einfach irgendwo dazugehören, einfach normal sein möchte. Adam war normal. Obwohl wir in eine Klasse gingen, hatte ich ihn vier Jahre lang überhaupt nicht bemerkt, so normal war er. Meine Freunde hörten Pink Floyd, lasen schon mit zwölf Musil, und mein bester Freund wollte Geiger werden. Adam war gut in Sport, schlecht in Mathematik, und er war hübsch: blond, blauäugig, sommersprossig, hübsch auf diese ganz und gar normale symmetrische Art, auf die sich die
ganze Welt einigen kann. Mein Cousin Olli sagt, Adam sei meine blonde Bestie gewesen.
    Ich sehe ihn an, wie er mir jetzt gegenübersitzt, und sein Gesicht ist ganz anders als damals, die Nase ist größer geworden und ein bisschen schief, nur der Mund ist immer noch schön. Er erzählt gerade, dass der Bankrott seines Unternehmens, eines

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