Schneegeflüster
und husten, kein Zweifel, er war da drin. Ich wartete im Dunkeln, und dann, plötzlich, klingelte im Behandlungszimmer das Glöckchen, ich stürzte hinein und konnte es noch zittern sehen, aber das Fenster war genau wie im Vorjahr offen,
und es war niemand da, insbesondere nicht mein Vater, der jetzt wieder vom Klo kam, wieder überrascht, und wieder den Kopf schüttelte und den Satz murmelte: »Irgendein Trick. Das ist irgendein Trick«.
Danach wurde ich fanatisch religiös. Ich verbrachte viele Stunden in der Kirche und bat das Jesuskind auf dem Altarbild, mir ein Zeichen zu geben. Falls es auch nur ein wenig mit den Augen zwinkerte, wollte ich so lange in Hungerstreik treten, bis meine Eltern nachgäben und mich taufen ließen. Aber das Jesuskind zwinkerte nicht, und irgendwann ebbte meine Begeisterung ab.
Ich weiß nicht, wann die Sache mit Weihnachten merkwürdig wurde. Mit neun kam ich aufs Gymnasium, und jetzt war es umgekehrt: Von den anderen Kindern glaubte keines mehr ans Christkind. Ihre Eltern hatten ihnen gesagt, dass Christus unsichtbar in die Herzen der Menschen tritt, bis sie so voller Liebe sind, dass sie nicht anders können, als Geschenke zu kaufen, die man auch umtauschen kann. Aber bei uns zu Hause gab es keinen Jesus. Unser Christkind war kein Symbol für irgendetwas, es existierte nur durch mich und für mich. Also kamen wir alle aus dieser Nummer nicht mehr heraus.
Ich konnte in der Schule niemandem erzählen, dass bei mir zu Weihnachten immer noch das Christkind durch das Fenster geflogen kam, obwohl ich keine kleineren Geschwister hatte. Man hätte mich - oder noch schlimmer: meine Eltern - für verrückt gehalten. Und so saß ich an den Weihnachtsabenden mit immer größerem Unbehagen am Tisch. Irritierenderweise klingelte das Glöckchen immer noch, während mein Vater gerade auf dem Klo saß, und niemand schien zu wissen, wie das zustande kam. Jedes
Jahr überprüfte mein Vater die Dichtung am Fensterrahmen, und jedes Jahr sagte er den Satz mit dem Trick, inzwischen in ironischem Tonfall, weil wir nicht umhinkonnten, uns daran zu erinnern, dass er ihn schon in all den Jahren zuvor gesagt hatte. Dennoch blieb da dieses isolierte Wunder, das jedes Jahr zwischen uns einschlug wie ein Meteorit aus fremden Welten.
Schließlich befreite ich uns nach zehn Jahren auf dieselbe Art von Weihnachten, wie ich es ursprünglich erzwungen hatte: durch einen Wutanfall. Aber die zehn Male, die das Christkind zu mir gekommen ist, sind nicht mehr aus der Welt zu schaffen, und jetzt spüren wir an jedem 24. Dezember, dass etwas fehlt. Seit ich nicht mehr in Wien lebe, besuche ich meine Eltern immer um die Weihnachtszeit. Ich komme zum Essen zu ihnen, und wir tun so, als wäre es ein ganz normaler Abend. Aber Dinge, über die nicht gesprochen werden darf, stehen uns bis zum Hals, und mein Vater flüchtet bald mitsamt der Zeitung aufs Klo. Dann denken wir alle daran, dass früher das Glöckchen geläutet hat.
Ich stehe in der Konditorei Demel in der Schlange und warte darauf, dass eine der Verkäuferinnen in den reizenden Biedermeierkleidern, die die Japaner so lieben, für mich Zeit hat. Weil es kein Weihnachten mehr gibt, gibt es auch keine Geschenke. Eine Torte ist kein Geschenk, in unserer Familie ist es so üblich, dass derjenige, der zum Essen eingeladen wird, die Nachspeise mitbringt. Aber die Torte zu Weihnachten muss so teuer sein, dass sie, obwohl sie kein Geschenk ist, eben doch wie eines wirkt. Deshalb kaufe ich die Torte bei Demel, da weiß man schon wegen der Verpackung, dass sie ganz unsinnig teuer war, und muss es nicht am Geschmack erraten, was auch schiefgehen kann. Ich habe die
Torte von Berlin aus vorbestellt. »Guttmann, Marlene«, sage ich überdeutlich zur Verkäuferin, die mir jetzt endlich gnädig ihre K.u.k-Hofbäcker-Aufmerksamkeit angedeihen lässt. Sie blättert im Bestellbuch, runzelt die Stirn, ich fühle schon, wie ich nervös werde, als jemand neben mir sagt: »Lenka?«
Ein Mann in mittleren Jahren, den ich nicht kenne. Vielleicht ein ehemaliger Lehrer, denke ich, bis mir einfällt, dass ich selber in mittleren Jahren bin und der Mann wohl in meinem Alter ist. Jeans, langer schwarzer Mantel, die grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Jemand, der wie ein Künstler wirken möchte, denke ich. Zahnarzt. Oder Möbelhändler. Da ist irgendetwas an ihm, was ich fast erkenne, aber ich komme nicht darauf.
»Du weißt nicht, wer ich bin, oder?«, sagt er und berührt mich am
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