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Schneegeflüster

Titel: Schneegeflüster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind , Rebecca Fischer , Steffi von Wolff , Andrea Vanoni
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weil meine Mutter so einen Unsinn redet. »Sie hat gebrüllt wie ein Stier!«
    Weinen ist in unserer Familie verpönt, während meine Wut etwas war, worauf meine Eltern stolz waren. Es gibt unzählige Fotos von mir, auf denen ich mit babydicken, gespreizten Beinen in der Mitte des Wohnzimmers sitze, das Gesicht unter wilden schwarzen Locken violettrot angelaufen, die Augen weit aufgerissen, die Lippen zum Schlachtruf vorgestülpt, und mit aller Kraft Zeitungen zerreiße, von denen man mir fürsorglich einen ganzen Stapel hingelegt hat. Man muss sich meinen Vater, den schmächtigen Mihai Guttman, vorstellen, wie er begeistert mit dem Belichtungsmesser
vor seiner tobenden Tochter hantiert, sie verliebt anstrahlt, sich eine Strähne seiner dünnen blonden Haare aus dem Gesicht bläst und hinter der auf dem Stativ aufgebauten Kamera verschwindet, um alle 36 Bilder eines damals noch sehr teuren Agfacolor-Films zu verknipsen.
    Die Therapeuten, mit denen ich es gelegentlich probiere und mit denen ich ebenso wenig Glück habe wie mit Männern, versuchen ihr Entsetzen zu kaschieren, wenn ich ihnen das erzähle und fragen vorsichtig: »Und was hat Ihre Mutter dabei gemacht?«
    »Die Filme beschriftet«, sage ich.
    Ich fühle, wie sich die Therapeutenherzen zusammenziehen, als hätten sie auf eine Zitrone gebissen, was eine miserable Metapher ist, weil Herzen keine Zähne haben (andererseits haben sie auch keine Knie, und dennoch ist Kleists an den unwirschen Goethe gerichteter Ausspruch »Ich nähere mich Ihnen auf den Knien meines Herzens« unsterblich geworden). Jedenfalls wollen einen die Therapeuten mit ihren Herzen verschlingen, Zähne hin oder her. Es wäre mir lieber, wenn sie auch einmal über die Grausamkeiten in den Familien lachen könnten, von denen sie von morgens bis abends hören. Zum Beispiel über die Angewohnheit meines Vaters, mich in seine Ordination mitzunehmen, meinen kleinen Kinderarm abzubinden, mir eine dicke Nadel in die Vene zu stecken und mich zusehen zu lassen, wie sich die Spritze langsam mit meinem rubinroten Blut füllte.
    »Schau es dir genau an und werd auf keinen Fall ohnmächtig«, befahl er mir.
    Diese Geschichte gibt den Therapeuten den Rest. Sie schaffen es nicht, ihr Entsetzen zu verbergen, und dann
kann ich nicht anders, ich beginne sie zu verachten. Ich denke daran, wie mein Vater mir zuzwinkerte und sagte: »Erzähl das nicht deiner Mutter, Frauen vertragen so etwas nicht.« Was wohl heißt, dass meine sämtlichen Therapeuten, unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht, in seinen Augen Frauen wären, Pussies, und damit keine ernst zu nehmenden Gegner für ihn. Ich könnte sie mir also gleich ersparen.
    »Was machst du, wenn eine in Ohnmacht fällt?«, fragte ich meinen Vater, während ich fasziniert auf mein eigenes Blut schaute. »Dann kriegen sie eines von diesen Dingern ins Bein«, er zeigte mir eine Schachtel mit kleinen Stachelampullen, die aussahen wie verpackte Wespen, »und, hops, sind sie wieder munter.«
    War der Kolben ganz hinten, spritzte er mir das Blut zurück in die Vene, und ich durfte gehen.
    Ich glaube, dass eine Menge Familien stolz sind auf ihr spezielles Repertoire von Grausamkeiten, mit denen sie ihren Nachwuchs abhärten. Ein Freund von mir, der vom Land kommt, durfte schon mit zehn Jahren den Fleischwolf bedienen. Dabei gerieten ihm drei Finger seiner rechten Hand zusammen mit den Stücken der frisch geschlachteten Kuh zwischen die rotierenden Messer, und ehe jemand die Maschine abstellen konnte, waren sie faschiert. Weil seine Knochen noch nicht ausgewachsen waren, ist sein rechter Zeigefinger zum Ausgleich für die drei fehlenden Finger doppelt so lang geworden wie der seiner linken Hand. Alle, die diesen riesigen Finger sehen, fragen danach, und dann erzählt er immer, wie die Geschichte weitergegangen ist: dass seine Familie es sich einfach nicht leisten konnte, das viele bereits zerkleinerte Fleisch wegzuwerfen, deshalb hätten die Stadtmenschen das Faschierte mitsamt den Fingern
drin gefressen. Dabei grinst er und ist voller Familienstolz. Eine solche Geschichte würde auch zu unserer Familie gut passen, nur keine Sentimentalitäten! Nur dass blutige Bubenfinger natürlich nicht koscher sind, ein jüdischer Metzger hätte die Wurst mit den Fingern drin also aus ganz anderen Gründen nicht mehr verwenden dürfen. Aber meine Eltern sind nicht religiös. Der Großvater meines Vaters war Rabbiner, und darauf ist mein Vater stolz, aber er selber ist -

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