Schneegeflüster
natürlich - Atheist. Nicht Agnostiker, Atheist. Agnostiker zu sein bedeutet, dass man etwas nicht weiß, und das kommt bei meinem Vater nicht vor. Er weiß alles über alles mit letztgültiger Sicherheit und eben auch, dass es keinen Gott gibt. Das soll er mir auseinandergesetzt haben, als ich in meinem ersten Jahr im Kindergarten gefragt habe, ob denn zu mir auch das Christkind kommen werde, wie es das offenbar bei den anderen Kindern jedes Jahr tat. »Nein. Es wird nicht kommen, weil es nicht existiert.«
»Ach geh, Mihai«, sagt meine Mutter mit gespieltem Vorwurf in der Stimme, »du wirst Lenka schon noch etwas anderes gesagt haben: dass das Christkind eine Erfindung speziell für dumme Menschen ist.«
»Kann sein«, gibt mein Vater zu und tut so, als wäre er zerknirscht.
»Eben«, kontert meine Mutter mit gespieltem Triumph, »das hat sie natürlich im Kindergarten Wort für Wort wiederholt.«
Es ist gar nicht so einfach, den Sinn des Theaterstücks zu verstehen, das meine Eltern da miteinander aufführen. Im Wesentlichen geht es darum, dass meine Mutter meinen Vater beruhigt, ihn von etwas ablenkt, über das nicht gesprochen werden darf. Weil es bei uns aber weder Mitleid
noch Trost geben kann, macht sie ihm stattdessen Vorwürfe, und zwar wegen etwas, das ungleich harmloser ist als das, woran er, ihrer Meinung nach, denken muss.
»Dein Vater hat dir das eingebrockt«, sagt sie zu mir, »du bist dort hineinmarschiert und hast allen erklärt, dass sie dumm sind. Daraufhin haben sie natürlich gesagt: Nicht wir sind dumm, sondern du bist böse. Darauf musst du gesagt haben, dass du gar nicht Böses getan hast, aber ein besonders abgefeimtes Kind hat dir eingeredet, dass es dann noch schlimmer ist. Wenn das Christkind trotzdem nicht kommt, bedeutet es, dass du als Ganzes böse bist. Und daran kann man nie mehr was ändern, und das Christkind kommt nie.«
»Und das hat dich ziemlich wütend gemacht«, sagt mein Vater zufrieden, »so wütend, dass wir machtlos waren.«
Und dann kam das Christkind wirklich. Meine Eltern kauften einen Baum, schmückten ihn und machten alles so wie die Familien um sie herum.
»So«, sagte mein Vater, »jetzt werden wir ja sehen.«
Er wollte mir offenbar beweisen, dass das Christkind nicht kommen würde, weil etwas, das nicht existiert, eben nicht kommen kann. Er bestand darauf, zu Abend zu essen, er wolle bei der unnützen Warterei nicht verhungern, sagte er. Nach dem Essen zündete er sich eine Zigarre an, dann schnappte er sich eine Zeitung. »Mihai«, sagte meine Mutter vorwurfsvoll, sie hasst es, dass er die Zeitung so ostentativ mit aufs Klo nimmt, sie findet, wenn das Lesen »dabei« schon sein muss, soll er die Zeitung irgendwann unauffällig dort deponieren. »Deine Mutter will sich nicht vorstellen müssen, dass ich auf dem Klo sitze und lese«, sagte er zu mir und zwinkerte mir zu, »sie ist eine sehr feine Person.« Dann verschwand er, und wir warteten. Plötzlich hörten wir durch
die gepolsterte Tür, die unsere Wohnung von der Ordination trennt, ein dünnes Klingeln. Ich erinnere mich tatsächlich an den Moment, als ich in das große Sprechzimmer kam, wo der Weihnachtsbaum stand. Alle Kerzen am Baum brannten, am Boden lagen bunte Pakete, das Fenster stand offen und der Vorhang wehte ins Zimmer. Ich rannte zum Fenster und schaute hinauf zum Himmel, aber da war nichts zu sehen außer dem Widerschein der Weihnachtsbeleuchtung, der die Nacht ganz hell machte. Mein Vater kam vom Klo gelaufen, sah zu dem Glöckchen, das am obersten Ast hin und her schwang, überprüfte mit dem Finger völlig unsinnigerweise die Dichtung des Fensterrahmens und murmelte dann ärgerlich: »Na ja, das ist natürlich irgendein Trick.«
Dass das Christkind doch zu mir kam, war natürlich großartig, denn es hieß, dass ich wohl nicht durch und durch böse war. Andererseits hatte ich das erste Mal erlebt, dass mein Vater nicht recht behalten hatte. Und ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst hatte: böse zu sein oder einen unvollkommenen Vater zu haben.
Im darauffolgenden Jahr überprüfte ich den Verdacht, dass es eventuell mein Vater selbst sein könnte, der das Glöckchen läutete, um sich danach schnell wieder aufs Klo zurückzuziehen. Als mein Vater mit der Zeitung verschwunden war, behauptete ich, ich bräuchte etwas aus dem Kinderzimmer, stattdessen schlich ich ins Wartezimmer, von dem die Türen zu Sprechzimmer und Klo abgehen. Ich hörte meinen Vater im Klo mit der Zeitung rascheln
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