Schneegeflüster
ist, und ich will wissen, warum er sich nicht gemeldet hat. Er schaut mich nur an wie ein Fisch, und dann kommt der erste Boxhieb auf den Arm. So bleibt es für den Rest des Schuljahrs. Ich versuche mit Adam zu sprechen, er lässt mich eine Weile reden, grinst, und dann haut er zu. Am Ende des Schuljahres fällt er durch und muss vom Gymnasium.
Mein Cousin Olli, der mich ein Jahr nach der Geschichte mit Adam entjungfert hat, quasi aus familiärer Solidarität, wollte mir noch Jahre später einreden, dass ich Adam finden und mich an ihm rächen sollte. Auge um Auge, Arm um Arm, alttestamentarische Psychohygiene. Olli gehört zur Familie, deshalb ist er auch kein Fan von Sentimentalitäten. Wir schlafen noch manchmal miteinander, aber meistens fangen wir mittendrin an, über irgendetwas zu streiten und vergessen dann den Sex.
»Irgendwann merkst du, dass deine Eltern dich völlig verkorkst haben«, sagt Olli, »das ist normal. Wie jeder gesunde junge Mensch willst du ihnen daraufhin den ganzen Mist ins Gesicht spucken und dann von vorn anfangen. Das Problem ist nur: Mit deinen Eltern geht das nicht, wir wissen, was mit ihnen passiert ist, woher die Verkorkstheit kommt, die sie an dich weitergegeben haben, und du kannst ihnen das unmöglich vorwerfen. Alle unsere Freunde haben ihre Eltern angeschrien, dass sie Schweine sind, und inzwischen sind sie befreit und munter, schnappen sich die besten Jobs, haben tollen Sex, vermehren sich. Nur du sitzt immer noch in irgendeiner versifften Bude, bist arbeitslos und schämst dich so, dass du entweder zu mager oder zu fett wirst, und keiner mit deinem Körper was zu tun haben will. Von deiner dreckigen Seele ganz zu schweigen.«
Dazu muss man sagen, dass Olli selbst über hundert Kilo wiegt, er hält sich aber für einen Adonis und kann sich vor Frauen tatsächlich kaum retten.
»Angenommen, du hast recht - was soll ich dann deiner Meinung nach tun?«
»Schmeiß das Therapeutengesocks hinaus. Finde diese blonde Bestie, den Burschen, der dich in der Schule ein
halbes Jahr lang verprügelt hat, und brich ihm den rechten Arm!«
»Was? Was hat der mit meinen Eltern zu tun?«
»Warum hast du dich damals nicht gewehrt? Weil du gedacht hast, dass du es bist, mit der was nicht stimmt? Dass du dich nie mit ihm hättest einlassen dürfen? Dass du es höchstens mit einem so anständigen, intelligenten und beschnittenen Kerl wie mir hättest tun dürfen, wenn überhaupt?«
Dabei springt Olli vor lauter Begeisterung über die Reinheit seiner Argumente nackt, wie er ist, bei jedem Satz in die Höhe.
»Du hast dich nicht gewehrt, weil du denkst, dass dir recht geschieht! Das ist die Verkorksung! Reiß sie dir aus dem Leib, Genossin! Finde den Kerl, und es wird mir ein Vergnügen sein, ihn festzuhalten, damit du ihm in Ruhe den Arm brechen kannst! Und nach einer gesunden Gewaltphase kannst du beginnen, friedlich mit den Leuten zu verhandeln.«
Olli redet jedenfalls aus Erfahrung, er war ein halbes Jahr im Gefängnis, ist nach Israel emigriert und nach zwei Jahren reumütig zurückgekommen. Jetzt arbeitet er als Versicherungsmathematiker und lebt mit einer Reiki-Therapeutin zusammen.
Adam bestellt uns noch eine Runde. »Was mache ich hier eigentlich, habe ich mich auf einmal gefragt«, erzählt er gerade, »mir ist klar geworden, dass sich mein ganzes Leben nur ums Geld dreht und dass ich etwas ändern muss.«
Ich kenne das, wenn Männer so reden, und es macht mich verlegen, ich finde alles so offensichtlich, dass es mir peinlich wäre, darauf einzugehen. Ich schaue in seine Augen
und versuche ihn zu finden. Und dann erinnere ich mich daran, wie ich genau das Tag für Tag ohne Erfolg versucht habe, wie ich ihm in die Augen geschaut und gedacht habe: Wo bist du? Ich bin die, die du drei Monate lang jeden Tag geküsst hast, erkennst du mich nicht? Und wie er scheinbar ganz offen zurückgeschaut hat - und dann kam der Schlag. Ich unterbreche seine Geschichte, ich muss wissen, was damals los war.
»Ich habe niemals eine Frau geschlagen!«, sagt Adam wütend.
»Geboxt. Und wir waren Kinder. Aber warum?«
»Du warst es doch, die plötzlich nichts mehr von mir wissen wollte! Herrgott, Lenka, ich war fünfzehn, ich wusste doch überhaupt nicht, was in einem Mädchen vorgeht.« Er ist jetzt zornig und sieht seinem früheren Ich ähnlicher. »Wahrscheinlich habe ich dich irgendwie bedrängt, war unsensibel oder so, keine Ahnung. Und dann kam der Anruf, dass du nicht mit uns mitfahren
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