Schneegeflüster
Möbelhauses, das Beste war, was ihm passieren konnte, und wie viel er aus der Scheidung von seiner Frau gelernt hat. Ich schaue auf seinen Mund und erinnere mich an unseren ersten Kuss. Die Einladung ins Kino. Die letzte Reihe ist zu teuer, und als die Werbung schon läuft, kommt unsere Erdkundelehrerin mit ihrem Mann herein und setzt sich hinter uns, und alles ist verdorben. Auf dem Heimweg beginnt es zu regnen, wir stellen uns im Eingang eines Uhrengeschäfts unter, das Schaufenster ist noch erleuchtet, lauter bunte Uhren aus Plastik liegen auf Samtkissen, das Allerneueste war das damals, mit Mickymäusen und roten Herzen. Adam fragt: »Darf ich dich küssen?«, und ich sage Ja. Danach reden wir fast nichts mehr miteinander, wir gehen jeden Tag nach der Schule in den Stadtpark und später, als es kälter wird, in den Umkleideraum des Eislaufvereins. In der dunklen Nische zwischen Tür und Filzvorhang beginnen wir uns sofort zu küssen, wir küssen uns drei, vier Stunden lang, bis wir nach Hause müssen. Das ist unser Leben in dieser Zeit. Auf geheimnisvolle Weise weiß mein Körper, was er zu tun hat, es ist ganz anders als das, was ich bei meinen Freundinnen gesehen habe. Ich muss nicht kichern, bin nicht unsicher, ich bin völlig ohne Angst und Scham. Ich weiß noch nicht, dass es danach nie mehr so sein wird. Ich glaube, dass ich für immer befreit bin, dass ich mit der Enge und Traurigkeit
meiner Familie nichts mehr zu tun habe. Auf Sonntagsausflügen sitze ich hinten im Auto, denke an die Küsse und weiß, dass sie dieses Auto sprengen könnten. Es ist erstaunlich, dass es überhaupt noch zusammenhält, dass die Türen nicht herausfliegen und der Motor explodiert, eigentlich ist die ganze Welt schon in die Luft geflogen, nur meine Eltern wissen noch nichts davon.
Dann kommt Weihnachten immer näher, und Adam soll mit seinen Eltern auf eine Skihütte fahren. Wir wären zwei Wochen lang getrennt.
»Könntest du nicht mitkommen?«, fragt Adam, und ich denke wirklich, dass das möglich ist. Zum ersten Mal fühle ich mich so stark, wie ich es in den Geschichten meiner Eltern immer bin. Adam täglich zu küssen kommt mir richtiger vor als alles andere, was ich bisher auf der Welt getan habe, und ich bin überzeugt, dass meine Eltern das einsehen müssen. Ich nehme allen Mut zusammen und erzähle ihnen alles: dass ich einen Freund habe, dass Adams Eltern Weihnachten auf der Skihütte feiern und mich mitnehmen wollen, dass ich ein eigenes Zimmer haben würde. Ich erkläre, dass sie dann auch keinen Christbaum mehr kaufen müssten und dass wir uns die Komödie mit Weihnachten endlich sparen könnten.
Adams Eltern wollen die meinen vorher kennenlernen, sie wollen sie zum Essen einladen oder zu uns kommen, ganz wie es meinen Eltern am liebsten ist. Ich finde, dass meine Eltern das unmöglich ablehnen können. Obwohl niemand, der nicht zu unserer Familie gehört, jemals unsere Wohnung betritt, und meine Eltern nie zu jemandem nach Hause gehen, glaube ich wie eine Idiotin daran, dass sie eine Ausnahme machen werden, weil es so wichtig ist. Ich
gebe meinen Eltern die Telefonnummer von Adams Eltern. Ich warte, die Tage vergehen. Ich frage. Mein Vater sagt, dass er auch noch andere Sachen zu tun habe, aber er werde sich schon darum kümmern. Ich kann Adam nicht erklären, warum meine Eltern die seinen immer noch nicht angerufen haben. Ich merke, dass er es seltsam findet, aber ich kann nichts machen. Am 22. Dezember verlange ich, dass sie es tun, ich schreie, sie starren mich an mit einem bösen Blick, als wäre ich ihr Feind. Am nächsten Tag fährt ihr Auto mit einem großen Weihnachtsbaum auf dem Dach in den Hof. Ich laufe hinunter, zerre den Baum vom Gepäckträger, breche Äste ab. »Ich will ihn nicht!«, schreie ich. »Das ganze Weihnachten ist doch nur eine Lüge. Ich will wegfahren!« Es ist ein richtiger Wutanfall wie in alten Zeiten, aber mein Vater macht keine Anstalten mehr, mich dabei zu fotografieren. Ich rufe bei Adam an, und da ist eine Putzfrau am Telefon, die mir sagt, dass die Familie schon fort ist. Ich warte den ganzen Tag auf eine Nachricht. Verheult sitze ich beim Weihnachtsessen, meine Mutter hat den Baum repariert, aber das Glöckchen klingelt nicht. Das Christkind kommt nicht mehr.
Die Ferien vergehen ohne ein Lebenszeichen von Adam. Am ersten Schultag gehe ich ihm entgegen, ich merke gleich, dass die Selbstverständlichkeit zwischen uns verschwunden ist. Ich will ihm erklären, was passiert
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