Schneegeflüster
um Duke Ellington live zu hören. Bestimmt werde er nicht so schnell wieder nach New York kommen. Seine Stimme hatte dabei zum ersten Mal etwas Forderndes, und Laura fand ihn ungewöhnlich männlich für seine neunzehn Jahre. Sie schrieb das teilweise der leeren Weinflasche zu, denn Wolfgang hatte den Löwenanteil daraus getrunken. Aber sie wusste, dass hinter seiner frühen Reife mehr steckte. Er war ein Mann, der seine Kameraden
auf dem Schlachtfeld verloren hatte. Seine verwundete Hand versuchte er immer wieder vor ihr zu verstecken, aber Laura konnte keinen Augenblick lang vergessen, was sie wusste. Ihr Onkel Wolfgang war im Alter von neunzehn Jahren von Tieffliegern erschossen worden, als er wegen seiner zerschossenen Hand ins Krankenhaus fuhr. Er betrachtete sie bewundernd, und als sein Blick länger als notwendig in ihrem versank, erkannte sie, mit welch intensiver Verzweiflung er sie begehrte. Sie erschrak. War er deshalb gekommen? Gab es ein karmisches Liebesband, das über den Tod hinaus zwischen ihnen wirkte? Wolfgang lächelte, als könnte er ihre Gedanken lesen. Zart wollte er ihr mit seiner gesunden Hand über die Wange streichen, aber sie wich zurück. Wolfgang nickte. In seinen Augen stand jetzt Bitterkeit. Ob sie eine Zigarette für ihn habe, wollte er wissen. Sie sah das Zittern seiner gesunden Hand, als er sich die Zigarette zwischen die Lippen steckte. Unsicher stand Laura auf, räumte stumm die Essensreste weg und machte sich an den Abwasch. Wolfgang verließ ohne ein Wort die Küche. Kurz darauf hörte sie, wie er versuchte, sich im Bad zu rasieren und dabei fluchte. Hielt er sie wirklich für seine Freundin Laura? Wenn ja, schien ihn die Tatsache, dass sie mit einem Mann zusammenlebte, nicht sonderlich zu stören. Seine Frage, ob sie Janis noch liebe, hatte sie mit einem schnellen Nein beantwortet. Dabei war das eine glatte Lüge.
In Janis’ bestem Anzug sah Wolfgang umwerfend aus. Selbst die Schuhe passten ihm. Über seinen Verband zog er eine schwarze Socke, sodass die Verstümmelung kaum auffiel. Kurze Zeit später waren sie auf der Straße. Wegen der klirrenden Kälte hatte Laura ihren langen schwarzen Schalkragenmantel über das kirschrote Kleid gezogen, in den sie
sich jetzt enger wickelte, während sie zum Himmel hinaufsah. Die Wolken hatten sich verzogen. Vereinzelte Sterne blitzten wie funkelnde Eiskristalle am schwarzblauen Firmament, und der Mond war in dieser Nacht fast voll. Auf ihren Stöckelschuhen musste sie kräftig ausschreiten, um mit Wolfgangs langen Beinen mithalten zu können. Ihr eleganter Begleiter sah mit den zurückgekämmten Haaren und Janis’ schwerem Konzertmantel irgendwie geheimnisvoll aus. Sie waren ein ungewöhnliches Paar, dachte Laura, als sie an St. Mark’s Place die Treppe zur U-Bahn hinabstiegen. Am Bahnsteig angekommen, tauchte Wolfgang aus seinem Schweigen auf. Die New Yorker U-Bahn faszinierte ihn sichtlich. Er hatte Spaß daran, sein Wissen über den Bau, das er sich in seiner Schulzeit aus Büchern angeeignet hatte, mit Laura zu teilen. Er reichte ihr fürsorglich den Arm, als sie am Union Square umsteigen mussten. Beinahe fröhlich eilten sie durch das schummerige Labyrinth der Tunnel. Als sie kurz darauf in dem berühmten A-Train nach Harlem saßen, sog er hungrig alles über die Ereignisse der letzten vierzig Jahre in sich auf, was sie ihm erzählen konnte. Von den anderen Fahrgästen wurden sie neugierig beäugt, denn der Name Hitler fiel mehr als einmal. Dann war Wolfgang plötzlich wieder ruhig, sehr ruhig sogar. Seine Hand zitterte heftig in ihrer. Laura versuchte sich zu entspannen, aber auch ihr war die Situation alles andere als geheuer. Er war kein Geist, denn sie konnte seinen Körper fühlen. Seine Hand war zwar kalt, aber seine Blicke sprachen die Sprache eines verzweifelten Verliebten.
Zu alten Duke-Ellington-Songs schoben sie eine knappe Stunde später so vertraut Wange an Wange über die Tanzfläche, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan.
Laura genoss es, wie souverän er führte, und ließ sich treiben, aber in ihr rasten die Gedanken. Sie konnte nicht mehr sicher sagen, ob Wolfgang ein Hirngespinst ihrer Fantasie war oder ob nicht vielmehr sie sich in Wolfgangs Traum befand. Doch mit jedem Tanzschritt fühlte sie sich ihm näher. Ihr Bauchgefühl riet zu Vertrauen, aber ihr Kopf rebellierte heftig gegen die magnetische Anziehungskraft, die von diesem Mann ausging. Wie auch immer sie es drehte und wendete, die
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