Schneegeflüster
Sechzigern hatten eine Vorliebe für Lauras Akzent und begrüßten sie wie immer mit einem jiddischen Scherz. Danach verschwand Chaim Kaminstein geschäftig im Lager, um den Lack zu mischen. Laura war ganz allein vorne im Laden, als sie Wolfgang zum zweiten Mal sah. Zwischen zwei mannshohen Regalen, vollgestopft bis auf den letzten Zentimeter, stand der Soldat neben einem Karton mit Tapetenrollen und lächelte ihr unsicher zu. Laura hielt den Atem an. Sie musste sich täuschen. Noch nie hatte sie eine Vision ein zweites Mal gesehen, und zudem sah der junge Mann ganz und gar nicht wie ein Geist aus. Erneut hob Wolfgang seine gesunde Hand und winkte ihr zu.
Er wirkte derartig real, dass Laura ihn gerade ansprechen wollte, als Chaim mit dem Lack zurückkam. Während sie plauderten, Chaim auf Jiddisch und Laura auf Deutsch, linste sie unauffällig zwischen die Regale, wo Wolfgang gerade noch gestanden hatte. Doch dort stapelten sich jetzt lediglich Tapetenrollen. Beruhigt atmete sie auf. Sie hatte sich getäuscht. Es wäre wohl auch ziemlich bizarr gewesen, wenn sie den jüdischen Brüdern den gefallenen deutschen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg hätte vorstellen müssen. Ihre Übermüdung musste schuld sein an den ungewohnten Kapriolen ihrer Fantasie. Trotzdem konnte Laura nicht anders, als erneut zu den Regalen zu sehen. Und tatsächlich, da war er wieder mit seinem verlegenen Casanovalächeln. Beim Bezahlen verfolgte sie mit Spannung, wie seine gesunde Hand hinter dem Karton mit Tapeten hervorkam, um nach der Uniformmütze zu fischen, die ihm vom Kopf gerutscht sein musste. Als Chaim sich an der Kasse wegdrehte, warf er die Mütze mit Schwung hoch, um sie geschickt mit dem Fuß aufzufangen. Offenbar wollte er Laura mit seinem Jonglieren zum Lachen bringen. Ihr fiel auf, dass sein dichtes, kurz geschnittenes Haar in dem gleichen Kastanienbraun glänzte wie das von Tante Carmen, als sie noch jünger war. Auch Wolfgangs Lächeln erinnerte sie an ihre Lieblingstante. Für jemanden, der seit vierzig Jahren tot war, blitzte ihm der Schalk ziemlich frech aus den Augen. Aber musste er seine Späßchen ausgerechnet im Laden von zwei Juden machen? Laura hielt den Atem an. Gleich würde er von Chaim Kaminstein entdeckt werden, oder aber von Moische, der nun sich lautstark räuspernd aus dem Hinterzimmer nach vorne schlurfte, um Laura als Geschenk den alljährlichen Kalender mit jiddischen Weisheiten in die
Hand zu drücken. Was würden die Brüder zu Wolfgangs Wehrmachtsuniform sagen? Unsinn, schalt sie sich gleich darauf. Der junge Soldat war nicht real, durfte es einfach nicht sein, denn wenn er es wäre, würde Laura dieses Weihnachten in der psychiatrischen Abteilung des Beth Israel Hospitals verbringen müssen. Laura atmete tief durch, um das jonglierende Hirngespinst in ihrem Inneren zu verscheuchen. Sie gab den Zwillingsbrüdern zum Abschied nacheinander die Hand, wünschte ihnen ein gesegnetes Chanukkafest und verließ ohne einen weiteren Blick zu den Regalen schnell den Laden. Auch bei ihren weiteren Besorgungen vermied sie es, hinter sich zu schauen. Schwer mit köstlichen Zutaten für ihr Weihnachtsmahl beladen, bog sie eine Stunde später wieder in ihre Straße. Kein Soldat weit und breit.
Kurz darauf roch es verführerisch in Lauras Küche. Nelken, Lorbeerblatt und Paprikaschoten köchelten in einer süßen Weinsoße, während Laura sich an die Vorbereitung fürs Streichen machte. Huhn sei ein hervorragendes Mittel gegen Liebeskummer, hatte Tante Carmen ihr gestern ans Herz gelegt, als sie das zweite Mal anrief, um sich nach Lauras Befinden zu erkundigen. Carmen war mehr als besorgt, seit sie von den Trennungsabsichten ihrer Lieblingsnichte wusste, und sie konnte eine echte Nervensäge sein. Sie wollte wissen, ob Laura gegessen habe und wie sie ihr erstes Weihnachtsfest allein gestalten wollte. Also kochte Laura, mehr ihrer Tante als sich selbst zuliebe, das traditionelle Weihnachtsessen der Familie. Bei den Castelettis gab es an Heiligabend immer Huhn. Aber allein würde sie mindestens drei Tage davon essen müssen, brummelte Laura vor sich hin, während sie die Hühnerstücke zum Schmoren
in die Soße legte. Danach klemmte sie für die Katzen ein Holzbrett vor die offene Schlafzimmertür, sodass die Kleinen geschützt, aber nicht einsam waren, während sie die erste Hälfte des Küchenfußbodens strich. Laura brachte gerade den schwarzen Kater ins Schlafzimmer, als es zaghaft an ihrer Tür klopfte. Bestimmt
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