Schneegeflüster
wenn er lebend aus dem Krieg zurückkehrte. Damit begann er den Reißverschluss ihres Kleides zu öffnen. Laura schloss die Augen, und wie durch einen Tunnel landete sie erneut in der Vergangenheit.
Im Marschschritt lief sie aufgeregt neben Carmen her, zwei junge Mädchen, die abwechselnd Wolfgangs Namen riefen, während sie zusammen mit anderen Frauen, die heimgekehrte Soldaten begrüßten, den Lazarettzug entlanghasteten. Lauras Herz klopfte wie wild, als sie ihn als Erste entdeckte. Dünn und elend sah er aus, wie er da humpelnd auf sie zukam. Er konnte nur noch einen Arm bewegen, der andere hing in einer Schlinge. Unsicher machte er einen Witz über seine verkrüppelte Hand, doch Laura wurde schlecht, als sie den blutigen Stumpen sah. Sie drehte sich um und rannte den Bahnsteig entlang, weg von seinen toten Augen und ihrer zerschossenen Liebe.
Zurück in ihrer New Yorker Küche begegnete Laura geradewegs Wolfgangs fragendem Blick. Minutenlang standen
sie einander schweigend gegenüber, während sie versuchte, sich gegen ihre heftigen Gefühle zu wehren. Nein, das konnte und durfte nicht sein. »Alles ist so unwirklich«, sagte Wolfgang in diesem Moment und fragte unsicher, ob er vielleicht lieber gehen solle. Jung wirkte der Krieger in diesem Moment und so verletzlich mit seinen neunzehn Jahren, dachte Laura. Er war vermutlich noch ein Jungmann, schoss es ihr durch den Kopf. Sie musste lächeln, denn noch nie war es vorgekommen, dass sie die Erfahrene war. Statt ihm eine Antwort zu geben, presste Laura ihre Lippen auf seine.
Im Bett - er hatte ihr das Kleid bereits von den Schultern gezogen - hielt er inne. Sensibel sprach er von Empfängnisverhütung, und sie küsste ihn umso zärtlicher für diese wunderbar mutige Geste. Mach weiter, flüsterte sie ihm zu, weil sie es kaum mehr aushalten konnte. Sie wollte seine glühenden Finger auf jedem Quadratmillimeter ihrer Haut spüren. Er liebkoste ihren Nacken, ihre Brüste und die Innenseite ihrer Schenkel, und seine Zunge war eine Offenbarung. Langsam, dachte Laura noch, als das Kondom an der richtigen Stelle war. Er hatte bereits die Führung übernommen. Wie oft sie zu den Sternen flogen, wusste sie später nicht mehr. Aber Wolfgangs seliges Lächeln war das Letzte, was Laura zufrieden wahrnahm, bevor der Schlaf sie Hand in Hand in sein Reich entführte.
Wenige Stunden später durchbohrten unverschämt grelle Sonnenstrahlen die Vorhänge vor Lauras Schlafzimmer. Es war der Morgen des Ersten Weihnachtstages, und sie wachte davon auf, dass jemand ungestüm an ihrer Wohnungstür klopfte. Sie hörte Janis’ Stimme. Schwach erinnerte sie sich daran, wie schlimm sie sich vor drei Tagen gestritten hatten.
In ihrer Wut hatte sie ihm den Schlüssel abgenommen und ihn allein nach Miami geschickt. Aber wo war Wolfgang? Das Bett neben ihr war leer. Auf dem Kissen lag die Kette mit den verschränkten Händen, das damalige Liebespfand, um den Stängel seiner Rose gewunden. Die dunkelroten Blätter wurden bereits welk. Laura sah erschrocken auf ihren Wecker. Es war Mittag. Schnell stand sie auf, um zur Tür zu gehen. Janis klopfte immer noch. Lauras Kopf schmerzte. Sie erinnerte sich an den Rotwein und den Champagner und musste lächeln. Was für eine unglaubliche Nacht! Das Klopfen wurde immer penetranter. Rasch griff Laura nach Janis’ weißem Hemd, das Wolfgang gestern zu seinem Anzug getragen hatte, und lief zur Wohnungstür. Leise rief sie dabei Wolfgangs Namen, um ihn zu warnen, falls er noch da war. Aber da war niemand in der Wohnung außer Laura und den drei Katzen. Sie öffnete die Tür. Erleichtert schloss Janis sie in seine Arme. Er hatte sich die schlimmsten Sorgen gemacht, als sie am Weihnachtsabend nicht ans Telefon gegangen war. Würde sie sich seinetwegen etwas antun? Dann verstummte er und sah Laura prüfend an. Sie versuchte ihr harmloses Lächeln, aber da stürmte ihr eifersüchtiger Grieche bereits an ihr vorbei in Richtung Schlafzimmer.
Soll er die Rose mit der Kette doch finden, dachte Laura, ging ins Bad und sperrte die Tür hinter sich zu. Im Spiegel musterte sie zufrieden ihre Lippen, immer noch geschwollen von Wolfgangs heißen Küssen, und schenkte sich selbst ihr schönstes Lächeln.
Viele Jahre später, als Laura mit Janis und ihren beiden Töchtern glücklich im Haus von Tante Carmen in München lebte, feierten sie jedes Jahr gemeinsam Weihnachten.
Während Tante Carmen ihr Huhn à la Wolfgang kochte und dabei Lieder von Duke Ellington
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