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Schneegeflüster

Titel: Schneegeflüster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind , Rebecca Fischer , Steffi von Wolff , Andrea Vanoni
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wieder Stanley aus dem obersten Stock, der Zucker oder Kaffee leihen wollte, dachte Laura, doch dann stutzte sie. Durch die Tür bat eine junge Männerstimme mit norddeutschem Dialekt um Einlass. Vorsichtig schob Laura das verbogene Messingplättchen auf die Seite und spähte durch den Spion. In dem schwach beleuchteten Flur stand der Soldat, bewaffnet mit einer Rose und einer Flasche Wein. Erschrocken lehnte Laura sich mit dem Rücken gegen die Tür. Warum besuchte Wolfgang sie in ihrer Wohnung? Wurde sie langsam verrückt? Sie rührte sich nicht. Vielleicht würde er wieder weggehen, wenn sie sich nicht bemerkbar machte? Doch gleichzeitig überfiel sie Neugierde. Es musste für Wolfgangs Auftauchen in New York eine logische Erklärung geben. War ihr Liebeskummer der Grund für sein Kommen? Doch da hörte sie ihn auf der anderen Seite der Tür etwas von dem Weihnachtessen murmeln, zu dem er eingeladen sei. Tatsächlich roch das Essen mehr als verführerisch. Huhn à la Wolfgang! Natürlich, das musste es sein. Tante Carmen kochte zu Weihnachten stets das Lieblingsessen ihres gefallenen Bruders: Huhn mit einem besonderen Paprikagemüse, in Rotwein mit einem Schuss Johannisbeersaft bis zum Zerfallen gegart, der Familien-Klassiker der Castelettis. Wolfgang summte jetzt im Flur ein Lied. Auch diese Melodie war Laura seit frühster Kindheit vertraut. Als ihr Vater noch am Leben war, hatte er das Lied oft zusammen mit
Lauras Mutter gesungen. Take the A-train to Harlem, der berühmte Duke-Ellington-Song von 1941, klang mit deutlicher Hamburger Sprachfärbung durch die Türfüllung an Lauras Ohr. Sie musste wider Willen lächeln. Der junge Mann, warum auch immer bei ihr aufgetaucht, war ihr durch Tante Carmens Geschichten so vertraut, dass Laura sich in diesem Moment sogar einbildete, sämtliche Lieder zu kennen, die Wolfgang während des Krieges klammheimlich im BBC-Sender auf dem Dachboden seines Hamburger Elternhauses mit seiner Freundin gehört hatte. Auch von Wolfgangs Freundin hatte Laura ein klares Bild vor Augen. Es gab ein Foto von den beiden. Glücklich lächelten sie unter dem Weihnachtsbaum in die Kamera, bevor Wolfgang in den Krieg ziehen musste. Wolfgangs Freundin hatte ebenfalls Laura geheißen, Laura Derksen, und sie war eine gute Freundin von Tante Carmen gewesen. Einen langen Atemzug schien die Luft in Lauras kleinem Apartment in der Fifth Street plötzlich unerträglich stickig. Dann siegte ihre Neugierde. Sie öffnete.
    Nachdem Wolfgang sie begrüßt und den Wein und die Rose übergeben hatte, erklärte er ihr, Laura habe ihn in Hamburg zum Weihnachtsessen eingeladen. Warum er plötzlich in New York war, schien er allerdings nicht zu verstehen. Laura wurde klar, dass auch Wolfgang die Situation alles andere als geheuer war. Das weitere Wie und Warum seines Besuchs jedoch blieb ihr köstliches Mahl über ungeklärt. Das Huhn mundete vorzüglich, Wolfgang erzählte lustige Anekdoten aus seinem Leben. Ob man nun das Jahr 1943 oder aber 1983 schrieb, schien ihm dabei einerlei. Es verwirrte ihn sogar, wenn Laura darauf zu sprechen kam. Wolfgang war voller Sehnsucht nach normalen Dingen. Es
war seine Idee gewesen, sich für das Weihnachtsessen in Lauras Küche besonders schön zu machen. Fast unsicher bat er sie um Hilfe beim Ausziehen seiner Uniform, weil er duschen wollte. Das warme Wasser, die saubere Kleidung von Janis und schließlich das festlich zubereitete Huhn mit dem seidigen italienischen Rotwein entlockten ihm Begeisterungsschreie. Wolfgang war lebhaft, charmant und sehr viel witziger, als Laura sich ihren Onkel vorgestellt hatte. Als er sie mit verschmitztem Lächeln darum bat, das rote Kleid anzuziehen, das er vor seinem Aufbruch an die Front für sie auf dem Schwarzmarkt gekauft habe, schluckte Laura. Sie kannte das Kleid, zumindest in schwarz-weiß, denn Wolfgangs Freundin trug es auf dem Foto unter dem Weihnachtsbaum. Sie wollte ihm nur ungern die Laune verderben, erwähnte aber bei dieser Gelegenheit noch einmal, dass sie eine andere Laura sei. Lebhaft erklärte sie ihm, sie sei eine seiner Nichten, die er leider nie kennenlernen würde, weil er im März 1943 erschossen worden sei. Doch Wolfgang lachte nur, stand auf und wollte wissen, wo sich ihr Kleiderschrank befand. Kurz darauf kam er zurück mit einem bezaubernden Kleid in dunklem Kirschrot, das Laura noch nie gesehen hatte. Aber sie zog es ihm zuliebe an. Nach einem weiteren Glas Wein schlug er vor, nach Harlem in einen Club zu fahren,

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