Schneegeflüster
Geschichte ergab keinen Sinn, widersprach aller Logik. Wie kam das kirschrote Kleid mit den passenden Schuhen in ihren Kleiderschrank? Hatte vielleicht ihre Tante Carmen etwas damit zu tun? Doch je mehr sie nachdachte, desto verwirrender wurden ihre Gefühle.
Wolfgang schien von alldem nichts mitzubekommen, er hielt sie fest um die Taille gefasst. Gut gelaunt summte er ihr die Melodie ins Ohr, während er sie immer draufgängerischer über das Parkett führte. Schließlich begann er hauchzart an ihrem Ohrläppchen zu knabbern, genau wie sie es mochte. Eine prickelnde Gänsehaut wanderte von ihrem Nacken in Richtung ihres Dekolletés. Sie spürte, wie sich die Spitzen ihrer Brüste aufrichteten und konnte rein gar nichts dagegen tun. Dieser Mann war einfach unwiderstehlich, und sie fühlte sich in seinen Armen sehr weiblich und begehrenswert. Janis gab ihr gerne das Gefühl, sie habe noch viel zu lernen, aber mit Wolfgang war es anders. An seiner Seite war sie eine Königin.
Als Laura kurz darauf in der Damentoilette ihr erhitztes Gesicht mit Wasser kühlte, strahlte ihr im Spiegel ein Wesen entgegen, das kein bisschen nach Liebeskummer aussah. Sie sah umwerfend aus. Nicht einmal ihre eher rundlichen Formen störten Laura heute. Zufrieden steckte sie eine vorwitzige
Strähne zurück in ihre Hochfrisur im Stil der Vierzigerjahre und bewunderte ihr Dekolleté. Das kirschrote Kleid und die hohen Schuhe verwandelten ihren fraulichen Körper, der in Jeans und unförmigen Wollpullis plump wirkte, in einen Männermagneten. Sorgfältig zog sie den roten Lippenstift nach. Die dunkle Umrandung ihrer Augen brachte das Grün ihrer Iris zum Leuchten, genau wie Wolfgang gesagt hatte. Er hatte ihr beim Schminken zugesehen und dabei von Tante Carmen erzählt, die ihn immer um Garderoben- und Schminktipps gebeten hatte, um seine Freunde verrückt zu machen.
Als Laura die Damentoilette verließ, genoss sie die bewundernden Männerblicke auf ihrer Wespentaille und straffte ihre Schultern, um ihren Ausschnitt noch besser zur Geltung zu bringen. Nie hätte sie sich mit Janis so verhalten. Er konnte es nicht leiden, wenn Frauen sich zur Schau stellten, zumindest hatte er das immer behauptet. Seltsam nur, dass er ausgerechnet die attraktivste Frau aus seinem Büro abknutschen musste! Aber Laura schob den Gedanken an ihren Freund schnell beiseite, als sie Wolfgangs Lächeln sah. Keinesfalls würde sie sich durch ihre Wut auf Janis diesen Abend verderben. Wolfgang schienen die Blicke der anderen Männer, die die strahlende Laura auf der Tanzfläche auf sich zog, tatsächlich Spaß zu machen. Als sie genug vom Tanzen hatten und an ihren kleinen Tisch zurückkamen, erschrak Laura. In einem Weinkühler wartete eine Flasche Champagner. Die Gläser waren bereits gefüllt, und dazu standen zwei Teller mit köstlichen Desserts auf ihren Plätzen. Wolfgang lächelte, als er wie ein Gentleman ihren Stuhl zurechtrückte, aber sie überschlug bereits in Windeseile, was sich noch an Geld in ihrem kleinen Abendhandtäschchen
befand. Bis jetzt hatte sie alles bezahlt, Tickets für die U-Bahn, den Eintritt für den Club und für jeden ein Getränk, das war ihr Gesamtbudget für den Abend. Ihre restlichen fünf Dollar würden nie für den Champagner reichen.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, zog Wolfgang ein Bündel Dollarnoten aus der Tasche seines Anzugs. Janis, flüsterte er so leise, dass Laura ihn kaum verstehen konnte, und reichte ihr den Champagnerkelch. Wolfgang bestand darauf, auf Lauras neuen Freund anzustoßen. Spöttisch nannte er Janis »den reichen Anzugmann«, der ihm seine Frau ausgespannt habe, während er an der Ostfront für den Sieg der Deutschen kämpfte. Es folgten bittere Sätze, denn Wolfgang war wie sein Vater ein Kritiker des Hitlerregimes. Laura war mit dieser Bitterkeit aufgewachsen, von Tante Carmen kannte sie die Geschichten vom öffentlichen Toilettenputzen und anderen Strafaktionen, denen die Familien der Regimekritiker während Hitlers Regierungszeit ausgesetzt waren. Laura biss sich auf die Lippe. Wolfgang war in Schweigen versunken, und sie verstand seine plötzliche Not. Sein Leben existierte nicht mehr. Er hatte alles verloren, auch seine Liebste. Aber wie sollte sie das vierzig Jahre später ändern? Wusste er überhaupt, dass seine Freundin nie einen anderen Mann gehabt hatte? Laura erinnerte sich, dass Tante Carmen ihr erzählt hatte, Wolfgangs Freundin sei fünf Monate nach seinem Tod bei dem großen
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