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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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darauf spezialisiert. Fruchtbarkeit ist ein Vermögen wert.“
    „Fruchtbarkeit und Schönheit“, bestätigte Sylvia. Sie beugte sich über eine Kerze und fuhr mit dem Finger durch die Flamme.
    Plötzlich fragte ich mich, warum Sylvia eigentlich keine Kinder hatte. Männer hatte sie ja genug, mehr als einen, hatte sie heute Mittag lachend auf meine Frage geantwortet, ob sie verheiratet sei. Ich glaubte ihr das sofort, in Sylvias Nähe fühlte man sich ein bisschen wie im Film. Ihre Ohrringe schimmerten. Es waren kleine Hänger, zwei Kristalle, ein runder und ein ovaler. Es waren genau die Ohrringe, die ich mir zum Geburtstag von Alex gewünscht hatte, stellte ich zu meiner Verwunderung fest.
    Sylvia bemerkte meinen Blick und lächelte mir zu. Traurig, wie mir schien. Im Prinzip hatte sie alles, was ich mir jemals gewünscht hatte. Außer einem Kind.

4. Kapitel: Die Weihnachtsnacht
    Nach dem Essen stand ich mit Christa in der Küche, die Spülmaschine brummte leise, die Uhr tickte. Es war 20.26 Uhr. „Jedes Jahr leiste ich mir ein Stück“, sagte Christa, die rosafarbene Spülhandschuhe trug und mir einen handbemalten Weihnachtsteller nach dem anderen zum Abtrocknen reichte. Ich genoss die Vertrautheit, die sich mittlerweile zwischen uns eingestellt hatte.
    „Den Engel im blauen Kleide mag ich besonders“, sagte sie und wollte mir den letzten Teller reichen. In diesem Moment geschah zweierlei: Die Türklingel riss uns aus unserer Stille und der Teller krachte auf die Fliesen. Christa und ich starrten uns an, dann auf den blauen Scherbenhaufen; der „Engel im blauen Kleide“ war nicht mehr zu retten.
    Es klingelte wieder. Jemand begab sich zur Tür.
    „Hendrik“, hörte ich Alex’ Stimme. „Du kommst spät.“
    „Brüderlein“, sagte der Angesprochene. „Was für eine Überraschung.“
    Hendriks Stimme war mir von Anfang an unsympathisch, sie kroch einem tief ins Ohr und durchdrang den ganzen Körper. Unweigerlich musste ich an Gollum aus Der Herr der Ringe denken und erwartete ein reptilienartiges Wesen.
    Die Schritte wurden lauter. Christa und ich blickten auf die Küchentür, aber die Schritte entfernten sich wieder. Hendrik schien direkt in den grünen Salon zu gehen, wohin sich Friedrich und Alex zurückgezogen hatten. Als Christa mich ansah, verlieh der Schmerz ihrem Gesicht aristokratische Würde. Dann nahm sie eine Kehrschaufel, fegte die Scherben zusammen und warf alles in den Müll. Laute Männerstimmen drangen aus dem Salon herüber.
    Christa begann, Weihnachtsplätzchen auf einer Étagère zu arrangieren. Eine Tür knallte.
    „Mama, kommst du mal“, rief Alex. Ich konnte den Zorn in seiner Stimme hören.
    „Ich mach das schon“, sagte ich und legte ihr meine Hand auf den Arm. „Geh ruhig.“
    Lautes Atmen. Ein Knacken. Meine Hand begann zu zittern. Ich drehte mich um.
    Ein Mann im schwarzen Anzug lehnte im Türrahmen und sah mich unverschämt an.
    „Sie müssen die Frau meines Bruders sein“, sagte er. „Hätte ja nicht gedacht, dass sich der alte Knabe nochmal verlobt.“
    Wie lange stand er schon da? Ich legte das letzte Aprikosenplätzchen auf die Étagère. Rote und goldene Sterne waren auf das Porzellan gemalt. Ich stützte mich auf den Tisch und fragte leise: „Nochmal?“
    „Ach, das tut mir aber leid, hab ich mich jetzt verplappert?“
    „Ich verstehe nicht.“
    „Ist auch besser so. Ging ja nicht gut aus für die Dame.“
    Er lachte, löste sich vom Türrahmen und kam auf mich zu.
    „Ich bin übrigens Hendrik“, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen.
    Ich begann wieder zu schwitzen. Hendrik hatte das Gesicht seines Vaters, doch er hatte auch ein fliehendes Kinn, das sonst bei niemandem in der Familie Marquard auftrat. Es war erstaunlich, was solch ein fehlender Zentimeter ausmachte.
    „Ich bin Anne“, sagte ich und wischte mir die Hände an der Schürze ab, bevor ich ihm eine reichte. Mir wurde schwindelig. Ich musste raus hier. Hendrik roch nach Orange, bildete ich mir ein, seine Ohrläppchen hingen schwer herab. Ich wendete mich von ihm ab.
    Ruhig atmen.
    „Mit dir stimmt doch was nicht.“, sagte er und sah mich von der Seite an. Plötzlich fing er an zu lachen. „Da hat sich der alte Knabe ja was Schönes eingebrockt.“
    Ich griff nach der Étagère und flüchtete in den grünen Salon.
    Um 20.50 Uhr läutete ein Glöckchen. Es war das Zeichen, dass wir uns im Wohnzimmer versammeln sollten. Sylvia hatte die Kerzen am Weihnachtsbaum angezündet, im Kamin

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