Schneekind
mied meinen Blick, „weil sie meiner Mutter mal einen Brief geschrieben hat.“
„Ach komm“, wehrte Christa ab. „Das gehört jetzt nicht hierher.“
„Tut mir leid, Mama“, sagte Alex sanft. „Aber ich denke, ich bin Anne eine Erklärung schuldig.“
Er sah mich an mit seinem süßen Das-tut-mir-leid-Blick: „Das Ganze ist schon ewig her, zehn Jahre mindestens, der Name war mir überhaupt nicht mehr geläufig, und als Mama mich am Telefon darauf hinwies, dass es sich bei dieser Frau um jene Wächter handelte, wollte ich die alte Geschichte nicht wieder ausgraben.“
„Was hatte sie eigentlich nochmal genau geschrieben?“ Alex sah seine Mutter an. „Stimmt. Dass es ihr nicht leicht falle, diesen Brief zu schreiben, aber sie halte es für ihre Pflicht, sich zu erklären.“ Er lachte höhnisch: „Pflicht!“
Im Grunde wusste ich längst, was dann kam:
„Frau Wächter hat behauptet, eine Affäre mit Papa gehabt zu haben“, bestätigte Alex meine Vermutung. Dann trank er den Rest Weißwein in einem Schluck. „Pflicht! Zum Schutze der Patienten und Familien.“ Er schüttelte den Kopf und lachte wieder. „Hat sie es nicht so formuliert?“
„Das mit dem Brief stimmt“, sagte Christa verlegen. „Aber die Anschuldigungen stellten sich als haltlos heraus.“
„Daniela war kinderlos und unverheiratet“, stellte Friedrich mit zusammengepressten Lippen fest. „Letztlich hat sie mir immer leidgetan.“
„Frau Wächter pflegte Ranküne“, sagte Christa, nahm die Teller und entglitt in die Küche.
Der Hauptgang wurde serviert: „Medaillon vom Reh in Johannisbeersoße mit Wirsing“, erklärte Christa, als sie zwei dampfende Teller hereintrug. Sylvia betrat nach ihr den Wintergarten, beschwert mit einer Schüssel Spätzle und einer Melancholie, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Sie schien sich Sorgen zu machen.
„Die Spätzle sind übrigens selbstgemacht.“ Christa deutete auf die dampfende Schüssel. „Davon nehmt ihr euch bitte selbst.“
Auch die Gläser hatten gewechselt. Anstelle von Weißwein stießen wir jetzt mit Rotem an:
„Auf einen schönen Abend!“, sagte Alex.
„Prost!“ Sylvia und ich lächelten uns zu.
„Auf uns!“, sagte Friedrich.
Man prostete sich zu. Auch Christa. Doch ihre Hand zitterte so sehr, dass sie es schnell an die Lippen ansetzte, um Halt zu gewinnen.
Eine Zeitlang war nur das Klappern von Besteck zu hören. Das Reh schmeckte vorzüglich, Christa war eine ausgezeichnete Köchin. Wir aßen schweigend, etwas drückte die Stimmung, als hätte auf dem Stuhl, der immer noch frei am anderen Kopfende stand, Daniela Wächter Platz genommen.
„An was ist sie eigentlich erstickt?“
Mit dieser Frage brach Christa das Eis, vielleicht war ihre Erlaubnis nötig gewesen, darüber sprechen zu dürfen. Vielleicht lag es auch an dem Wein, dass wir plötzlich lockerer mit dem Thema umgingen.
„An ihrem Schweigen bestimmt nicht“, sagte Sylvia, und man lachte.
„Atemstillstand ohne äußere Einwirkungen bedeutet“, sagte Alex, „dass kein Fremdkörper ihre Lunge oder Atemwege blockiert hat.“
Er schnitt konzentriert ein Stück Reh klein, als handelte es sich um einen chirurgischen Eingriff. „Solch eine Atemlähmung kann zwei Ursachen haben: Etwas hindert die Erythrozyten daran, genügend Sauerstoff aufnehmen zu können, oder“ – er hob die Gabel vor den Mund – „etwas blockiert die intrazelluläre Atmungskette.“
„Darunter kann ich mir leider gar nichts vorstellen“, Christa lächelte mir zu: „Immer dieses Jägerlatein.“
„Erythrozyten sind doch die roten Blutkörperchen, die den Sauerstoff transportieren, oder?“, fragte ich, um mich mit Christa zu solidarisieren.
Alex nickte kauend: „Sie bestehen zum Großteil aus Hämoglobin.“
„Gift“, sagte Sylvia mit glänzenden Augen. „So etwas kann nur Gift. Nehmen wir mal Kohlenstoffmonoxid, das vielleicht bekannteste Blutgift. Kohlenstoffmonoxid hat eine 200- bis 300-fach stärkere Bindung an Hämoglobin als Sauerstoff. Wird man damit vergiftet, sind die Erythrozyten also quasi besetzt und können keinen Sauerstoff mehr transportieren.“
„Kohlenmonoxid ist ein Gas“, sagte Friedrich und schüttelte den Kopf. „Wenn jemand Gas in die Aula gepumpt hätte, wären alle daran gestorben.“
„Das war doch nur ein Beispiel“, sagte Sylvia nachsichtig. „Außerdem stimmt das nicht. Je nachdem, wie hoch die Konzentration von Kohlenstoffmonoxid in der Luft ist, stirbt man nach einer
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