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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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eintreten.
    Ein großer, loftartiger Raum tat sich auf, die dunklen Dachbalken und weiß getünchten Wände wirkten modern. Ich sah ein helles Sofa, einen antiken Sekretär, ein chinesisches Schränkchen; das Sofa hatte ein paar Flecken. Die Einrichtung erinnerte mich an Christa. Trotzdem blieben mir die Dinge fremd. Ich legte das Tütchen mit den Aprikosenplätzchen, die Christa mir für ihren Sohn mitgegeben hatte, wortlos auf den Küchentisch und setzte mich steif auf einen Hocker. Auch Alex wollte es sich nicht bequem machen. Er blieb neben mir stehen. Nur Hendrik fläzte sich in einen Sessel.
    „Interessiert es dich gar nicht, wie Papa gestorben ist?“
    Hendrik antwortete nicht. Auf dem Sofatisch stand ein großer Aschenbecher, zwei Zigarettenpäckchen lagen zerknüllt daneben, eine Tüte mit Tabak, loses Zigarettenpapier und allerhand Tütchen und Tabletten.
    „Es besteht die Möglichkeit, dass Papa vergiftet wurde.“ Alex sprach langsam und beobachtete seinen Bruder dabei.
    Unvermittelt grinste Hendrik, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
    „Hast du mich verstanden?“ Alex sprach lauter: „Papa wurde vielleicht vergiftet.“
    Hendrik lachte auf.
    „Deshalb habe ich heute Morgen auch gleich bei den Bullen angerufen und gesagt, was ich gesehen habe“, sagte Hendrik. Jetzt beobachtete er uns.
    Alex tat einen Schritt vor. „Du hast bei der Polizei ...?“
    „Klar. Ich wusste, dass man mir die Scheiße anhängen würde, deshalb habe ich das gleich mal geklärt.“
    „Woher wusstest du, dass Papa tot war?“
    „Das war ja wohl offensichtlich!“ Hendrik rutschte vom Sessel auf den Boden, fasste sich mit beiden Händen an den Hals und begann zu würgen. „So was überlebt keiner, nicht mal der Alte.“
    Alex fasste sich an die Schläfen, als versuchte er, das Gehörte zu verarbeiten.
    „Ist doch klar, dass die versuchen, mir das anzuhängen“, wiederholte Hendrik. Seine Stimme klang jetzt schrill. „Klar, Mann, ich hab dem Alten den Tod gewünscht, von mir aus gibt es auch ein paar Typen, die das bezeugen können, und ja, ich bin vorbestraft, und dann noch die Scheiße mit dem Kredit.“
    „Du hast gestern Nacht 4.000 Euro geklaut.“ Alex’ Augen verengten sich zu Schlitzen.
    Hendrik reagierte nicht. Er drehte sich eine Zigarette.
    „Aber es ist wie immer“, sagte er plötzlich in einem jammernden Tonfall. „Ich bin zu schwach. Und Sylvia zieht die Scheiße durch.“
    „Sylvia?“
    „Klar man. Das hab ich den Bullen auch gesagt.“
    „Warum Sylvia?“ Alex konnte es offenbar nicht fassen.
    „Weil ich gesehen habe, wie sie Friedrich was ins Glas getan hat.“
    Ich habe Hendrik nie „Papa“ oder „Vater“ sagen hören.
    „Das war Holundersirup“, sagte ich.
    „Und ich bin der Kaiser von China.“ Hendrik lachte. Er fühlte sich jetzt stark, das war nicht zu übersehen. Er sah im Gesicht seines älteren Bruders, dass er ihn besiegt hatte.
    „Außerdem habe ich Beweise“, setzte er noch eins drauf. „Ich bin ja nicht blöd.“
    „Was für Beweise?“, fragte Alex in sich zusammengefallen. Sein Anblick machte mich ganz elend.
    Hendrik zog eine Plastiktüte hervor, in die etwas eingewickelt war. Es war eine Aldi-Tüte. „Ich habe es eingepackt. Morgen werde ich es der Polizei übergeben.“
    Ich blickte aus dem Fenster auf eine alte, historische Straßenlaterne hinab. Darüber leuchtete ein Schild von C&A.
    „Lass uns gehen“, sagte Alex und nahm meine Hand. „Es wird dir niemand glauben“, zischte er seinem Bruder zu. Wir gingen ohne ein weiteres Wort.
    Die Altstadt war wie ausgestorben. Unsere Schritte hallten auf dem Pflasterstein, einsame, zögernde Schritte. Kurz bevor wir das Auto erreichten, blieb Alex stehen.
    „Warte“, sagte er und ging noch einmal zurück. Ich nickte.
    Ein Pärchen ging an mir vorbei, sie lachten und verschwanden wieder in die Dunkelheit. Ich blickte hoch zu der Dachgeschosswohnung. Im Fenster brannte Licht. Bedrohlich neigte sich das Haus mir zu; die Etagen wurden breiter, je weiter es nach oben ging.
    Ich drehte mich um. Das Schloss war beleuchtet. Von dieser Seite sah es nicht ganz so beeindruckend aus wie von der Donau-Seite, doch es reichte, um mich klein und ohnmächtig zu fühlen.
    Ich ging ein paar Schritte in Richtung Marktplatz. Ein Plakat kündigte eine Hamlet-Vorstellung im hiesigen Theater an.
    Hamlet. Tim, mein erster Mann, stammte aus der Nähe von Stratfort-upon-Avon, der Geburtsstadt von William Shakespeare. An meinem 22.

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