Schneekind
das Striegeln ein und lehnte sich an die Holzwand. Pünktchen schnupperte an ihrer Tasche. „Diese Pille wurde als mögliche Wunderpille gehandelt, weil sie in der Herstellung extrem günstig und in der Wirkung überdurchschnittlich verträglich sein sollte. Ein paar Kritiker haben aber von Anfang an davor gewarnt, dass diese Pille Gebärmutterhalskrebs auslösen könnte, bestimmte Tierversuche und Experimente wiesen darauf hin. Papa tat das immer als reinen Unsinn ab, als blanken Neid der Kollegen. Während einer Pressekonferenz prahlte er damit, dass diese Pille so sicher sei, dass er sie ohne Bedenken seiner eigenen Tochter verschreiben würde.“
Ich sah sie an. Mein Brustkorb wurde eng. Ich wollte nicht hören, was sie gleich sagen würde.
„Es ist nicht so, dass er mich gezwungen hätte“, sagte sie. „Ich war damals 17, ich wollte ohnehin die Pille nehmen, ich vertraute meinem Vater.“ Sie lächelte bei der Erinnerung. „Ich habe regelrecht gebettelt, sie ausprobieren zu dürfen.“ Sie schloss die Box. Sie stand direkt vor mir, als sie sagte: „Mit 24 wurden mir dann die Eierstöcke und die Gebärmutter entfernt, es gab keine andere Möglichkeit mehr.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
„O mein Gott“, sagte ich.
Sie setzte sich auf einen Strohballen, ich setzte mich neben sie.
„Vielleicht hatte es auch nichts damit zu tun“, fuhr sie fort. „Bei den anderen Testpersonen konnte zum damaligen Zeitpunkt prozentual keine wesentlich höhere Erkrankungsrate als beim Durchschnitt beobachtet werden.“ Sie schwieg kurz. „Die Pille kam nie auf den Markt“, sagte sie dann.
Sylvia stand auf, um eine Decke für Pünktchen zu holen. Ich starrte ihr hinterher.
Über zehn Jahre habe ich gebraucht, um über meine Gefühle und die schlimmen Erlebnisse sprechen zu können. Es war fast genauso mühsam gewesen wie das Erlernen einer Fremdsprache. Sylvia hingegen redete über diese Dinge, als spräche sie über das Wetter. Es gab solche Frauen auch unter meinen Patientinnen: Je höher ihre Bildung und gesellschaftliche Stellung, desto freier sprachen sie über Probleme und Gefühle, die andere nicht einmal im engsten Familienkreise zu thematisieren wagten: postnatale Depressionen, Sex, kein Sex, Inkontinenz, Versagensängste, alles kein Problem.
„Das ist das Leben“, sagte Sylvia und kam mit einer großen Decke zurück. Sie schob die Boxtür wieder auf.
Manchmal fragte ich mich allerdings, ob diese Offenheit eine besonders perfide Schutzvorrichtung war, um etwas zu verbergen.
„Na komm.“ Pünktchen ließ sich geduldig eindecken. Ich half Sylvia, die Laschen zu schließen. Unsere Hände berührten sich, als wir am Hals des Tieres angelangt waren.
Sylvia sah mich an und fragte: „Aber würde ein Vater, der seine Tochter wirklich liebt, so etwas tun?“
Selbst das sprach sie aus.
„Ich weiß es nicht“, log ich und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sylvia nahm mich in die Arme und begann, mich zu trösten.
War Alex schon mal verlobt? , wollte ich fragen, doch ich bekam kein Wort heraus.
„Anne?“ Das war Alex’ Stimme. Er kam mit großen Schritten die Stallgasse entlang. Vor der Box blieb er stehen und starrte uns an.
„Hendrik ist tot“, sagte er. „Er wurde tot in seiner Wohnung gefunden.“
Seit über einer Stunde schippten wir Schnee: verbissen, ausdauernd, schweigend. Der Schneepflug der Stadt fuhr nur bis zu dem schmiedeeisernen Tor mit der Aufschrift privat . Bis dahin waren es noch mindestens 200 Meter.
„Das passiert einmal in zehn Jahren, dass man mit den Autos nicht mehr durchkommt“, sagte Alex und schüttelte den Kopf. Er trug eine Pelzmütze.
Sylvia sagte nichts. Sie schaufelte wie eine Maschine.
Plötzlich blickten alle auf: Ein dunkler, großer Wagen kämpfte sich mit Schneeketten den Weg herauf. Es war Kommissar Engler.
„Mein tief empfundenes Beileid“, sagte Gerd Engler an Alex gewandt. Ich starrte auf das Auto. Es war ein dunkler Mercedes. Es begann wieder zu schneien. Engler scharrte verlegen mit dem Fuß im Schnee. „Ich hoffe, Ihre Mutter findet Trost im Glauben.“
Wir gingen ins Haus.
Christa und Karl Anton saßen in der Küche. Mit offenen, ins Nichts gerichteten Augen saß Christa da, Karl Anton sprach leise auf sie ein. Er hatte seinen Arm um sie gelegt. Sie mussten uns kommen gehört haben, doch es schien ihnen egal zu sein. Erst als Engler gegen die geöffnete Küchentür klopfte, erhob sich Karl Anton und reichte ihm die
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