Schneekind
Hand.
„Gerd“, sagte er und deutete auf einen Stuhl. „Erzähl.“
Wir setzten uns und starrten den Kommissar an. Seit über einer Stunde warteten wir auf Details, die man uns am Telefon nicht hatte geben dürfen.
„Atemstillstand“, sagte Engler.
Meine Wangen glühten. Es war heiß hier drin.
Engler räusperte sich: „Der Bluttest ergab eine hohe Menge Dicetylmorphin.“
„Heroin?“ Alex schnellte nach oben. „Eine Überdosis?“
„Sieht so aus“, sagte Engler und blickte Christa mitfühlend an. „Aber vielleicht ist es ja wenigstens ein kleiner ... wie soll ich sagen ... ein kleiner ... Trost, dass Hendrik sich erklärt hat, bevor er aus dem Leben schied. Er hat eine Nachricht hinterlassen.“
Alle starrten den Kommissar an. Sylvia knackte mit den Fingern.
„Einen Abschiedsbrief?“, fragte Christa.
„Ein Schuldeingeständnis?“ Karl Antons Frage klang wie ein Befehl.
„Im Prinzip ja.“ Der Kommissar zog ein Papier aus der Innenseite seines Jacketts hervor. Er reichte es Christa.
Christas Hand zitterte.
Das Papier war nicht in eine Klarsichtfolie gehüllt. Es war also kein Beweisstück , war mein erster Gedanke. Dann sah ich, dass es sich nur um eine Kopie handelte.
„Weil einer sündigt, da wird er bestraft“, nickte Engler. „Die Handschrift ist zwar ziemlich unleserlich, aber Herr Müller, unser Handschriftenexperte, ist sich relativ sicher.“ Der Kommissar sah uns an, zuerst Alex, dann mich. „Oder wollen Sie nochmal einen Blick darauf werfen? Sie kennen die Schrift Ihres Bruders besser.“
Alex und ich starrten auf das Papier.
„Herr Müller hat recht“, sagte Alex, bevor ich den Mund öffnen konnte.
„Nach den Ereignissen, denke ich, ist klar, worauf sich der Satz bezieht“, sagte Engler und sah seinen ehemaligen Lehrer an.
Karl Anton nickte: „Tief im Innern war der Junge gläubig. Zuerst beging er Sünde an seinem Vater, dann erdrückte ihn das schlechte Gewissen.“ Er räusperte sich. „Er hat sich selbst bestraft, vielleicht ist es das Beste so.“
Christa zuckte zusammen und Karl Anton fuhr fort: „Der Junge war aber vor allem eins: Er war krank. Die Drogen haben ihn zerstört. Ich glaube nicht, dass er sich der Vorgänge bewusst war. Seine Handschrift zeigt, dass er nicht mehr klar bei Verstand gewesen sein kann.“
Christa weinte jetzt. Alex nahm sie in den Arm. Auch ihm liefen Tränen über die Wangen. Karl Antons Gesicht verschloss sich wieder. Das war das einzige Mal, dass ich ihn so lange reden gehört habe, und es war wie ein Beweis seiner Liebe.
„Das sehe ich genauso“, versicherte der Kommissar. „Leider habe ich schon viele junge Menschen kennengelernt, deren Leben von Drogen zerstört worden ist.“
Auch Kommissar Engler hatte feuchte Augen. Er war ein guter Mensch, dachte ich.
Christa putzte sich die Nase und mitten durch den Schock, der noch immer deutlich in ihren Augen stand, kämpfte sich der befreiende Gedanke, dass nun alles ein Ende gefunden hatte.
Ich begleitete Engler hinaus.
„Es tut mir leid, dass ich Sie beunruhigt habe“, sagte er, als wir im Flur standen. „Ihnen noch weiterhin viel Glück.“ Er gab mir die Hand.
Ich lächelte ihm zum Abschied zu.
Nachdem sich der Kommissar verabschiedet hatte, zog ich mich ins Gästehaus zurück, in dem Alex und ich untergebracht waren. Von hier aus hatte man den schönsten Blick: An der Rückseite des Gebäudes waren große Teile des Mauerwerks herausgebrochen und durch eine Glasfront ersetzt worden. Ein Gefühl der Erhabenheit stellte sich bei mir ein, als ich über das winterlich verschneite Donautal blickte.
Der einzige Wermutstropfen war, dass man das Schloss der Hohenzollern von hier aus nicht sah.
Ich saß in dem altmodischen Sessel, der neben dem Bett stand, und ließ meinen Blick schweifen. Auf dem Beistelltisch lag meine Ledermappe. Ich war froh, dass ich mir Arbeit mitgenommen hatte, denn wie es aussah, würden wir bis zur Beerdigung hier bleiben. Alex meinte zwar, ich könne zwischendurch nach Berlin fliegen, schließlich hätte ich Verpflichtungen, doch es war mir nicht recht, Alex in dieser Situation alleine zu lassen. Der Sessel war mit roten und weißen Kirschblüten übersät.
Sakura . In Japan waren die Blüten ein Symbol für Schönheit, Aufbruch und Vergänglichkeit. In meinen Geburtsvorbereitungskursen verteilte ich immer kleine Zweige davon, die tiefgefroren in meiner Truhe lagerten und ausschlugen, sobald man sie in warmes Wasser stellte. In den Kursen
Weitere Kostenlose Bücher