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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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geprägt, sondern ein Totenkopf.
    „Anne?“ Ich erschrak. Sylvias Stimme drang von unten herauf. War sie im Garten? Ich blickte angestrengt hinab, doch ich konnte nichts erkennen. Zur Vorsicht faltete ich das CTG zusammen und steckte es zurück in den Umschlag.
    Habe ich erwähnt, dass Mama Chemie-Ingenieurin in der großen Fabrik war, in der das Fließband niemals stillstand? Dort wurde allerhand hergestellt, aber vor allem Schädlingsbekämpfungsmittel. Mama arbeitete in der Abteilung für Forschung und Entwicklung. Die Packung sah aus wie eine der üblichen Testpackungen, die in ihrem Labor herumlagen, doch warum versteckte Mama sie zu Hause? Das tat sie sonst nie.
    Die Antwort lag nahe. Die Packung war für acht Dragees, doch eines fehlte. Im Grund überraschte es mich nicht, dass Mama sich diese Option immer offengehalten hatte. Wahrscheinlich zog sie aus dem Wissen, dass die Tabletten in ihrem Geheimversteck auf sie warteten, all die Jahre die Kraft, durchzuhalten.
    Ich war mir sicher, dass Mama die erste Tablette selbst genommen hat. Deshalb war sie Anfang Februar so plötzlich verstorben; bei einer Krebspatientin im Endstadium dachte niemand an eine Obduktion.
    Die zweite Tablette ging an den armen Garcon. Ich verfütterte sie nur ungern an Alex Hund, doch ich sah keine andere Möglichkeit, zu testen, wie giftig die Dragees waren. Als Gaston nur wenige Minuten nach dem Mahl verstarb, wusste ich, dass es sich um ein tödliches Gift handelte. Vielleicht wäre es gar nicht nötig gewesen, ihn danach von der Dachterrasse zu werfen, doch ich wollte kein Risiko eingehen; außerdem war er ja schon tot. Trotzdem habe ich danach fluchtartig das Haus durch den Hinterausgang verlassen und so stark gezittert, dass ich mich bei der Arbeit im Schwesternzimmer hinlegen musste. Die dritte Tablette war für Daniela Wächter bestimmt. Ich stellte fest, dass sich die Dinger leicht zu Pulver zermalmen ließen, das gut wasserlöslich war. Es war auch für mich ein Experiment, das Pulver in ihrem Sektglas aufzulösen. Ich wusste ja nicht, wie es schmeckte. Der Geruch zumindest war neutral. Also gab ich Frau Wächter das Glas Sekt persönlich, stieß mit ihr an und fragte: „Erinnern Sie sich an mich?“ Die vierte Tablette ging an Friedrich Marquard.
    Nein, ich tat sie nicht in seinen Champagner. Das war mir zu unsicher geworden. Denn Frau Wächter hatte ihr Gesicht verzogen, als sie den Sekt trank, doch sie trank ihn, weil sie durch das Gespräch mit mir emotional stark aufgewühlt wurde. Alles, was sie in den Minuten vor ihrem Tod sagte, war: „Das schmeckt aber bitter.“
    „Anne?“, rief Sylvia wieder. „Schläfst du noch?“
    Für Friedrich habe ich das Pulver mit der Aprikosenmarmelade vermischt. Es war nicht ganz einfach gewesen, die Marmelade in das fertige Plätzchen zu spritzen, aber Friedrich hat nichts gemerkt. Er aß das Plätzchen, das ich ihm auf dem Weg ins Wohnzimmer von der Étagère reichte, und lächelte mich dabei an. Daniela Wächter starb nach 4 Minuten, Friedrich Marquard nach 12, das Gift wirkte also langsamer, wenn man es in fester Form zu sich nahm.
    Nein, die fünfte Tablette ging nicht an Hendrik Marquard. Ihn habe ich nicht umgebracht, das schwöre ich. Hendrik Marquard hatte mit Luka ja nichts zu tun gehabt. Warum hätte ich ihn umbringen sollen? Ich bin keine Mörderin, nicht in dem Sinne.
    Außerhalb der Stadtgrenze war die Dunkelheit jetzt vollkommen.
    Der Tod von Hendrik war mir unheimlich. Anfangs war ich einfach nur überrascht gewesen, doch von Stunde zu Stunde fürchtete ich mich mehr davor. Etwas stimmte da nicht. Der Zettel in seiner Hand sprach doch eindeutig gegen einen Selbstmord. Es mussten Alex oder Sylvia gewesen sein. Oder hatte Sylvia doch recht mit der Trittbrettfahrer-Theorie?
    „Anne, kommst du? Wir essen bald.“
    Ich blickte auf die Uhr. Es war kurz vor 19 Uhr. Seit zwei Stunden saß ich hier, versunken in Erinnerungen und Kirschblüten, und fühlte mich seltsam geborgen. Ich legte meine Hände auf den Bauch. Die Waagschalen meines Lebens kamen langsam wieder ins Gleichgewicht. Für das Böse habe ich etwas Gutes bekommen: für Friedrich Marquard seinen Sohn Alex. Für Daniela Wächter Sylvia.
    Doch letztlich konnte niemand, auch nicht Alex oder Sylvia, die Schale der Toten aufwiegen, denn in ihr lag mein Kind.
    Nichts . Gar nichts?
    Wenn andere Frauen das zu mir gesagt haben, dachte ich immer, sie seien verrückt: Sie hätten es sofort gespürt, sagten manche. Rein

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