Schneemann
Wohnung, sondern irgendwo in der Öffentlichkeit.
Harry ließ sich rücklings mit geschlossenen Augen aufs Bett fallen.
“Um mir zu sagen, dass wir uns nicht mehr treffen können?”, fragte er.
“Um dir zu sagen, dass wir uns nicht mehr treffen können”, bestätigte sie. “Ich schaffe das nicht.”
“Es reicht, wenn du es mir am Telefon sagst, Rakl.” “Nein, das reicht nicht. Dann tut es nicht weh genug.” Harry stöhnte. Sie hatte recht.
Also verabredeten sie sich für den nächsten Vormittag um elf Uhr beim Fram-Museum, dem Touristenmagneten auf der Halbinsel Bygdoy, wo man zwischen all den Deutschen und Japanern untertauchen konnte. Als sie ihn fragte, was er in Bergen trieb, sagte er es ihr und bat sie, niemandem etwas zu erzählen, bevor sie davon in ein paar Tagen in der Zeitung las.
Nachdem sie aufgelegt hatten, blieb er liegen und starrte die Minibar an, während Memento den rückwärtslaufenden Handlungsstrang fortsetzte. Harry war an diesem Tag um Haaresbreite einem Mordanschlag entkommen, die Liebe seines Lebens wollte ihn nicht mehr sehen, und er hatte den schrecklichsten Fall seines Lebens abgeschlossen. Aber hatte er ihn tatsächlich abgeschlossen? Er war Müller-Nilsen die Antwort schuldig geblieben, warum er sich entschieden hatte, Bratt allein zu suchen, doch jetzt wusste er es. Seine Zweifel hatten ihn dazu getrieben. Seine Hoffnung. Diese verzweifelte Hoffnung, die Dinge könnten doch nicht so zusammenhängen. Und diese Hoffnung hatte er noch immer. Er musste sie loswerden. Ertränken. Na los, schließlich hatte er drei gute Gründe und ein Rudel Köter im Bauch, die wie besessen bellten. Warum machte er nicht endlich diese Minibar auf?
Harry ging ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und trank, während ihm die Tropfen ins Gesicht spritzten. Dann richtete er sich auf und blickte in den Spiegel. Leichenblass. Warum wollte die Leiche nichts trinken? Er spuckte sich die Antwort laut und deutlich ins Gesicht: “Weil es dann nicht weh genug tut!”
Gunnar Hagen war müde. Unendlich müde. Er sah sich um. Es war fast Mitternacht, und er hockte in einem Clubraum in der obersten Etage eines Bürogebäudes mitten im Zentrum von Oslo. Der ganze Raum glänzte braun: der Schiffsboden, die Decke mit ihren versenkten Strahlern, die Wände mit den gemalten Porträts der ehemaligen Präsidenten des Clubs, dem das ganze Etablissement gehörte, der zehn Quadratmeter große Mahagonitisch und die lederne Schreibunterlage, die vor jedem der zwölf Anwesenden lag. Hagen war eine Stunde zuvor telefonisch vom Polizeipräsidenten hierher bestellt worden. Einige der Personen im Raumwie den Polizeipräsidenten - kannte er, andere hatte er nur in der Zeitung gesehen, doch die meisten sah er zum ersten Mal. Der Kriminalchef führte sie in den Sachverhalt ein und verkündete, der Schneemann sei eine Polizistin aus Bergen, die eine gewisse Zeit auch aus ihrer Stelle im Dezernat für Gewaltverbrechen in Oslo operiert und die Polizei nach Strich und Faden an der Nase herumgeführt habe. Jetzt sei sie jedoch gefasst worden, so dass sie den Skandal alsbald veröffentlichen müssten.
Als er fertig war, hing die Stille ebenso schwer über ihren Köpfen wie der Zigarrenrauch.
Dieser Rauch stieg am Ende des Tisches auf, wo ein Mann mit schlohweißen Haaren saß, das Gesicht im Schatten. Jetzt gab er zum ersten Mal ein Geräusch von sich. Nur ein leichtes Seufzen. In diesem Moment fiel Gunnar Hagen auf, dass jeder, der an diesem Abend das Wort ergriffen hatte, sich eigentlich immer an diesen Mann gerichtet hatte.
“Verdammt unangenehm, Torleif”, begann der Weißhaarige mit überraschend heller, femininer Stimme. “Extrem schädlich. Das Vertrauen ins System. Das ist unsere Operationsebene. Und das bedeutet … “, der ganze Raum schien die Luft anzuhalten, als er an seiner Zigarre paffte, ” … dass Köpfe rollen müssen. Die Frage ist nur, welche.”
Der Polizeipräsident räusperte sich. “Haben Sie einen Vorschlag?”
“Noch nicht”, gab der Weißhaarige zu. “Aber ich denke, Torleif, Sie haben einen. Schießen Sie los.”
Der Polizeipräsident blickte zum Kriminalchef, der das Wort ergriff. “Wie ich die Sache sehe, hat es konkrete Fehler bei der Einstellung und der Einführung dieser Person gegeben, menschliche Fehler, die nichts mit dem System zu tun haben und demnach nicht unmittelbar der Führungsetage anzulasten sind. Wir schlagen deshalb vor, zwischen Verantwortung und Schuld zu
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