Schneemann
bemühte sich, Augenkontakt herzustellen, um sich einen ersten Eindruck von dem potentiell Verdächtigen zu verschaffen, sollte es sich denn wirklich um einen Fall handeln. Aber die Augen waren hinter den reflektierenden Brillengläsern nicht zu erkennen.
“Ich habe mittlerweile alle angerufen, mit denen sie Kontakt aufgenommen haben könnte, aber keiner weiß etwas”, sagte Filip Becker. “Was wissen Sie?”
“Nichts”, sagte Harry. “Aber Sie könnten uns helfen, indem Sie nachsehen, ob Koffer, Rucksäcke oder Kleider fehlen, damit wir uns ein Bild machen können”, Harry musterte Beckers Gesicht, ehe er fortfuhr: ” … ob dieses Verschwinden spontan oder von langer Hand vorbereitet war.”
Becker erwiderte Harrys forschenden Blick, dann nickte er und ging die Treppe in den ersten Stock hoch.
Harry hockte sich wieder neben Jonas, der nun auf die schwarze Mattscheibe starrte.
“So, so, du magst also Roadrunner?”, fragte Harry. Der Junge schüttelte stumm den Kopf.
“Warum nicht?”
Jonas’ Flüstern war kaum zu hören: “Willy Kojote tut mir leid.” Fünf Minuten später kam Becker wieder herunter und verkündete, es fehle nichts, weder Reisetaschen noch Kleider, abgesehen von den Sachen, die sie getragen hatte, einschließlich Mantel, Stiefel und Schal.
“Hm.” Harry kratzte sich das unrasierte Kinn und sah zu Ebba Bendiksen. “Können wir mal in die Küche gehen, Becker?”
Becker ging vor, und Harry gab Katrine ein Zeichen mitzukommen. In der Küche begann der Professor sofort, Kaffee in einen Filter zu löffeln und Wasser in die Maschine zu füllen. Katrine blieb an der Tür stehen, während Harry ans Fenster trat und nach draußen sah. Der Kopf des Schneemanns war schon zwischen die Schultern gesunken.
“Wann sind Sie gestern Abend von zu Hause aufgebrochen, und mit welchem Flugzeug sind Sie nach Bergen geflogen?”, fragte Harry.
“Ich bin hier gegen halb zehn los”, sagte Becker, ohne zu zögern. “Das Flugzeug ging um fünf nach elf.”
“Hatten Sie danach noch einmal Kontakt mit Birte?” “Nein.”
“Was glauben Sie, ist geschehen?”
“Ich habe keine Ahnung, Herr Kommissar. Wirklich nicht.” “Hm.” Harry sah nach draußen auf die Straße. Seit sie gekommen waren, hatte er nicht ein einziges Auto vorbeifahren hören. Eine wirklich stille Gegend. Allein diese Stille kostete in diesem Teil der Stadt vermutlich ein paar Millionen zusätzlich. “Was für eine Ehe führen Sie und Ihre Frau?”
Harry hörte, dass Filip Becker seine Tätigkeit unterbrach, und fügte hinzu: “Ich muss das fragen, schließlich kommt es vor, dass Ehepartner ganz einfach weggehen.”
Filip Becker räusperte sich. “Ich kann Ihnen versichern, dass meine Frau und ich eine ganz ausgezeichnete Ehe führen.”
“Hatten Sie trotzdem schon einmal den Verdacht, sie könnte heimlich eine außereheliche Beziehung haben?”
“Das ist ausgeschlossen.”
“Ausgeschlossen ist ein starkes Wort, Becker. Außereheliche Beziehungen sind eigentlich recht häufig.”
Filip Becker lächelte leicht. “Ich bin nicht naiv, Herr Kommissar. Birte ist eine attraktive Frau und überdies einige Jahre jünger als ich. Und sie stammt aus einer ziemlich freizügigen Familie, wenn ich das so sagen darf. Aber sie selbst ist anders. Außerdem habe ich einen ziemlich guten Überblick über ihr Tun und Lassen, um es mal so auszudrücken.”
Die Kaffeemaschine bullerte warnend, als Harry den Mund öffnete, um genauer nachzuhaken. Er entschied sich anders.
“War Ihre Frau in der letzten Zeit irgendwie launisch? Ist Ihnen etwas aufgefallen?”
“Birte ist nicht depressiv. Sie ist nicht in den Wald gegangen und hat sich erhängt oder im Meer ertränkt. Sie ist irgendwo da draußen, und sie ist am Leben. Ich habe gelesen, dass immer wieder Menschen verschwinden und plötzlich wieder auftauchen, und dass es dafür in der Regel ganz banale Erklärungen gibt. Das stimmt doch, oder?”
Harry nickte langsam. “Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich ein bisschen im Haus umsehe?”
“Warum wollen Sie das?”
Der scharfe Klang in Filip Beckers Frage zeigte Harry, dass dieser Mann es gewohnt war, die Zügel in der Hand zu haben und über alles informiert zu werden. Dass seine Frau gegangen sein sollte, ohne ihm etwas zu sagen, stand dazu in krassem Widerspruch. Harry hatte es im Stillen auch schon ausgeschlossen. Eine gutsituierte, angepasste, gesunde Mutter mit einem zehnjährigen Sohn macht sich nicht einfach
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