Schneemann
Sorkedalsveien in Richtung Majorstua.
“Was ist dir als Erstes aufgefallen, als wir ins Haus gekommen sind? “, fragte Harry.
“Dass die Leute, die dort zusammenleben, nicht gerade unter Seelenverwandtschaft leiden”, antwortete Katrine und fuhr ohne zu bremsen durch die Mautstation. “Dass diese Ehe vielleicht unglücklich ist. Und dass sie in diesem Fall die Hauptleidtragende sein muss.”
“Hm. Warum?”
“Das ist doch offensichtlich”, sagte Katrine lächelnd und sah in den Spiegel. “Diese Geschmacksunterschiede. “
“Das musst du mir schon genauer erklären.”
“Sind dir nicht dieses hässliche Sofa und der Tisch aufgefallen?
Typischer Achtziger-Jahre-Stil, so etwas wird von Männern gekauft-meist zehn Jahre zu spät. Sie hingegen hat den Esstisch aus weißlasierter Eiche mit dem Aluminiumgestell ausgesucht. Und die Vitra.”
“Vitra?”
“Die Stühle, die an dem Tisch standen. Kommen aus der Schweiz. Teuer. Scheißteuer sogar. Mit etwas günstigeren Kopien hätte sie so viel sparen können, dass es auch noch für eine neue Wohnzimmereinrichtung gereicht hätte.”
Harry bemerkte, dass das Wort “Scheiße” aus Katrines Mund gar nicht so hässlich klang, sondern bloß einen sprachlichen Kontrapunkt setzte, der ihre Klassenzugehörigkeit unterstrich. “Und was heißt das?”
“Bei der Größe des Hauses und dieser Lage spielt Geld sicher keine Rolle. Vermutlich war es ihr ganz einfach nicht erlaubt, sein Sofa und seinen Tisch auszuwechseln. Und wenn ein Mann ohne Geschmack oder sichtliches Interesse für die Einrichtung so etwas tut, sagt mir das etwas darüber, wer da wen dominiert.”
Harry nickte, wie um sich selbst zu gratulieren. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getrogen. Katrine Bratt war gut.
“Sag mir lieber, was du denkst”, bat sie. “Schließlich soll ich etwas von dir lernen.”
Harry sah aus dem Fenster auf die alte, traditionsreiche, aber nie sonderlich ehrwürdige Kneipe Lepsvik.
“Ich glaube nicht, dass Birte Becker das Haus freiwillig verlassen hat”, meinte er.
“Warum nicht? Es gab keine Anzeichen von Gewalt.” “Weil es gut geplant war.”
“Und wer ist der Täter? Der Ehemann? Es ist doch immer der Ehemann, oder?”
” Wenn man einmal davon absieht, dass der hier in Bergen war.” “Sieht ganz so aus, ja.”
“Er hat das letzte Flugzeug genommen, kann also nicht wieder zurückgekommen sein, bevor er morgens die erste Vorlesung gehalten hat.” Katrine gab Gas und rauschte bei Dunkelgelb über die große Majorstua-Kreuzung. “Wäre Filip Becker schuldig, hätte er sicher auch den Köder geschluckt, den du ihm hingeworfen hast.”
“Köder?”
“Ja, von wegen launisch. Du hast Becker gegenüber doch angedeutet, sie könne auch Selbstmord begangen haben.”
“Ja und?”
Sie lachte laut. “Komm schon, Harry. Es ist doch nun wirklich bekannt, dass die Polizei nur bedingt aktiv wird, wenn es nach Selbstmord riecht. Das dürfte sogar Becker wissen. Und du hast ihm die Chance gegeben, eine Theorie zu stützen, mit der er die meisten seiner Probleme lösen könnte, sollte er wirklich schuldig sein. Stattdessen hat er bloß betont, seine Frau sei glücklich gewesen wie der Mops im Paletot.”
“Hm, und du meinst, ich wollte ihn mit dieser Frage auf die Probe stellen? “
“Du stellst doch ständig alle auf die Probe, Harry. Mich zum Beispiel. “
Harry antwortete erst, als sie weit unten auf dem Bogstadveien waren.
“Die Menschen sind oft klüger, als man denkt”, bemerkte er und schwieg dann, bis sie im Parkhaus des Präsidiums standen.
“Ich muss den Rest des Tages alleine arbeiten.”
Er sagte das, weil er an den rosa Schal gedacht und einen Entschluss gefasst hatte. Das Material, das Skarre über die vermissten Personen zusammengetragen hatte, musste so schnell wie möglich durchgesehen werden, er musste so schnell wie möglich seinen nagenden Verdacht überprüfen. Und sollte er sich bewahrheiten, musste er mit dem Brief zu Kriminaloberkommissar Gunnar Hagen gehen. Diesem verdammten Brief.
KAPITEL 5
4. November 1992. Totempfahl
Als William Jefferson Blythe III. am 19. August 1946 in der kleinen Stadt Hope in Arkansas das Licht der Welt erblickte, waren genau drei Monate vergangen, seit sein Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Vier Jahre später heiratete Williams Mutter erneut, und er nahm den Namen seines neuen Vaters an. In jener Novembernacht, sechsundvierzig Jahre später, 1992, legte sich weißes
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