Schneemann
Konfetti wie Schnee auf die Straßen von Hope, um zu feiern, dass ihre Hoffnung, das Kind ihrer Stadt, William - oder einfach nur Bill - Clinton zum zweiundvierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden war. Der Schnee, der in jener Nacht über Bergen fiel, erreichte wie üblich nicht den Boden, sondern schmolz noch in der Luft und wurde wieder zu dem Regen, der die Stadt seit Mitte September durchweichte. Erst als der Morgen kam, hatten sich einige Flocken wie feiner weißer Puderzucker auf die Gipfel der sieben Berge gelegt, die die hübsche Stadt bewachten. Auf dem höchsten Gipfel, dem Ulriken, wartete bereits Polizeikommissar Gert Rafto. Schlotternd atmete er die kalte Bergluft ein und zog dabei die Schultern bis unter den breiten Kopf hoch. Sein Gesicht war von derart vielen Falten durchzogen, dass er aussah wie ein Ballon, dem man die Luft rausgelassen hatte.
Die gelbe Kabinenbahn, die ihn und drei Kollegen von der Kriminaltechnik der Bergener Polizei zu dem populären Aussichtspunkt 642 Meter über der Stadt befördert hatte, hing leicht schwankend in ihren soliden Stahlseilen. Sie war sofort außer Betrieb genommen worden, nachdem sich am Morgen die ersten Touristen bei der Polizei gemeldet hatten.
“Ach, du Scheiße”, platzte einer der Kriminaltechniker heraus. “Das kann man wohl sagen”, bestätigte Rafto. Seine Augen blitzten zwischen den Falten hervor.
Die Leiche, die vor ihnen im Schnee lag, war derart zerstückelt, dass man nur anhand einer unverletzten Brust erkennen konnte, dass es sich um eine Frau handelte. Der Rest erinnerte Rafto an den Verkehrsunfall in Eidsvägneset im Jahr zuvor, bei dem ein Lastwagen in einer scharfen Kurve seine Ladung verloren hatte. Die Aluminiumprofile hatten das entgegenkommende Auto buchstäblich in Stücke gehackt.
“Der Mörder hat sie hier getötet und zerstückelt”, sagte einer der Techniker.
Ein Hinweis, der Rafto reichlich überflüssig erschien, da der Schnee rund um den Leichnam mit Blut durchtränkt war. Die länglichen Spritzer an der Seite deuteten darauf hin, dass mindestens eine Pulsader aufgeschnitten worden war, während das Herz noch schlug. Er notierte sich, dass er herausfinden musste, wann es in der Nacht aufgehört hatte zu schneien. Die letzte Bahn war tags zuvor um fünf Uhr nachmittags gefahren. Natürlich konnten Opfer und Täter auch über den Wanderweg gekommen sein, der sich unter der Bahn nach oben schlängelte. Oder sie waren mit der Floybanen auf den benachbarten Berggipfel gefahren und von dort herübergelaufen. Aber diese Wege waren beide recht anstrengend, so dass Rafto eher auf die Kabinenbahn tippte.
Im Schnee waren die Fußspuren zweier Menschen zu erkennen.
Die kleinen stammten unzweifelhaft von der Frau, auch wenn von ihren Schuhen jede Spur fehlte. Die anderen mussten folglich vom Täter stammen. Sie führten zum Weg hinunter.
“Große Stiefel”, stellte der junge Kriminaltechniker fest, ein hohlwangiger, hagerer Mann von der Insel Sotra. “Mindestens Größe 48. Das muss ein kräftiger Kerl sein.”
“Nicht unbedingt”, widersprach Rafto und reckte schnuppernd die Nase in die Luft. “Der Abdruck ist uneben, sogar hier oben, wo es flach ist. Das könnte darauf hindeuten, dass die Person kleinere Füße als Schuhe hat. Vielleicht wollte er uns täuschen.”
Rafto spürte die Blicke der anderen und wusste, was sie jetzt dachten. Dass er, der Superbulle und Medienliebling, sich mal wieder hervortun wollte. Große Klappe, markantes Gesicht, voller Tatendrang und Durchsetzungsvermögen. Kurz und gut: ein Mann, wie geschaffen für die Schlagzeilen.Bis er ihnen allen plötzlich zu groß geworden war, nicht nur der Presse, sondern auch den Kollegen. Von einem Tag auf den anderen hatten sie genug davon, dass er - wie sie meinten - nur an sich selbst und seinen Platz im Rampenlicht dachte und in seinem Egoismus zu vielen jungen Kollegen auf den Schlips getreten und über zu viele Leichen gegangen war. Rafto aber kümmerte sich nicht darum, da sie nichts gegen ihn in der Hand hatten. Fast nichts. Tatsächlich war schon mal die ein oder andere Wertsache von einem Tatort verschwunden. Ein Schmuckstück oder eine Uhr, etwas, das einem Opfer gehört hatte und das wahrscheinlich niemand vermissen würde. Bis eines Tages einer seiner Kollegen nach einem Stift suchte und eine Schublade in Raftos Schreibtisch öffnete. So die offizielle Version. Auf jeden Fall fand dieser Kollege drei Ringe, und Rafto wurde
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