Schneemann
weigerte sie sich allerdings, ihm zu erzählen, was sie Rafto gesagt hatte, und beteuerte, sie habe ihm absolutes Stillschweigen versprochen. Erst als er ihr mit dem Skalpell in die Handfläche schnitt, redete sie.
Ihren Worten konnte er entnehmen, dass sich Rafto wohl vorgenommen hatte, den Fall allein zu lösen. Um sein Renommee wieder herzustellen. Dieser Idiot.
Die eigentliche Tötung von Onny Hetland ging dann aber anstandslos über die Bühne. Wenig Lärm, wenig Blut. Und die Zerlegung ihrer Leiche in der Dusche lief effektiv und schnell. Anschließend wickelte er alle Körperteile in Plastik und verstaute sie in dem großen Rucksack und der Tasche, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Rafto hatte Mathias bei dessen Hausbesuchen erklärt, dass die Polizei bei Mordfällen grundsätzlich als Erstes nach geparkten Autos fahndete, die in der Nähe beobachtet worden waren, beziehungsweise nach bestellten Taxis. Deshalb ging er den ganzen Weg bis zu seiner Wohnung zu Fuß.
Jetzt stand nur noch der letzte Teil von Gert Raftos Gebrauchsanweisung für den perfekten Mord aus: Töte den Ermittler.
Seltsamerweise gefiel ihm von allen drei Morden dieser am besten. Das war insofern seltsam, als Mathias keine Gefühle für Rafto empfand, keinen Hass, wie er ihn bei Laila Aasen gespürt hatte. Doch hier hatte er das Gefühl, zum ersten Mal in die Nähe der Ästhetik gekommen zu sein, die ihm ursprünglich vorgeschwebt hatte. Zum einen weil die Tat selbst genauso grausam und herzzerreißend gewesen war, wie er es sich ausgemalt hatte. Noch heute hörte er Raftos schrille Schreie über die menschenleere Insel hallen. Und das Merkwürdigste von allem: Auf dem Rückweg waren seine Zehen nicht mehr weiß und taub gewesen. Als wäre sein fortschreitendes Erfrieren für einen Moment zum Stillstand gekommen. Als wäre er aufgetaut.
Als Mathias in den nächsten vier Jahren vier weitere Frauen tötete und dabei bemerkte, dass all diese Morde nur ein Versuch waren, den Mord an seiner Mutter zu rekonstruieren, kam er zu dem Schluss, dass er wohl verrückt war.
Genauer gesagt: dass er unter einer schweren Persönlichkeitsstörung litt. Auch die Literatur, die er zu diesem Thema konsultierte, bestätigte ihn in seiner Annahme. Das rituelle Moment etwa: Wenn möglich, legte er seine Taten auf den Tag des ersten Schnees, und hinterher baute er immer einen Schneemann. Und nicht zuletzt war da noch sein immer stärker werdender Sadismus.
Aber diese Einsicht hinderte ihn in keiner Weise am Weitermachen. Denn die Zeit war knapp, die Symptome des Raynaud’schen Syndroms traten in immer kürzeren Abständen auf, und er glaubte auch die ersten Symptome von Sklerodermie zu spüren: eine Spannung im Gesicht, die ihm mit der Zeit das kleine Karpfenmaul und diese widerliche, spitze Nase verleihen würde, wie sie für das fortgeschrittene Stadium der Krankheit typisch waren.
Er war nach Oslo gezogen, um seine Doktorarbeit in Immunbiologie zu schreiben, und wollte sich dabei insbesondere dem Thema des Flüssigkeitstransports im Gehirn widmen. Dieses Spezialgebiet wurde schwerpunktmäßig im Anatomischen Institut der Gaustad-Klinik erforscht. Parallel zu seiner Forschungstätigkeit arbeitete er in der Marienlyst-Klinik - auf Empfehlung von Idar, der dort bereits eine Stelle bekommen hatte. Außerdem übernahm Mathias Nachtschichten in der Ambulanz, da er ohnehin nicht richtig schlafen konnte.
Seine Opfer waren nicht schwer zu finden. Zum einen hatte er Zugang zu den Blutproben der Patienten, die manchmal direkt gegen eine mögliche Vaterschaft sprachen, und zum anderen gab es ja die DNA-Tests der Vaterschaftsabteilung in der Rechtsmedizin. Idar, der selbst für einen Allgemeinmediziner eine höchst begrenzte Kompetenz mitbrachte, suchte insgeheim Mathias’ Rat in allen Fällen erblicher Krankheiten und Syndrome. Handelte es sich um junge Menschen, lautete er fast immer gleich: “Sieh zu, dass beide Elternteile mit in die Sprechstunde kommen, nimm Speichelproben von allen, sag, dass es nur um eine Überprüfung der Bakterienflora geht, und schick die Proben an die Vaterschaftsabteilung, damit wir wenigstens von den wirklichen Fakten ausgehen.”
Und Idar, dieser Idiot, tat, wie ihm geraten. Was dazu führte, dass Mathias nach einiger Zeit über eine ansehnliche Kartei von Frauen mit Kindern verfügte, die quasi unter falscher Flagge segelten. Das Beste daran war aber, dass sich keine Verbindung zwischen seinem Namen und diesen Frauen
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