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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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noch lange auf den Hörer. Mein Gott, wie er sie hasste. In dieser Nacht lag er schlaflos auf dem schmalen Bett des Studentenzimmers, das er nach dem Studium behalten hatte. Er probierte es mit Lesen, aber die Buchstaben tanzten nur vor seinen Augen. Dann versuchte er es mit Onanieren. In der Regel erschöpfte ihn das physisch so sehr, dass er anschließend einschlief, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Er stieß sich eine Nadel in den großen Zeh, der wieder vollkommen weiß geworden war, nur um zu überprüfen, ob er etwas fühlen konnte.
    Zum Schluss kauerte er sich unter der Decke zusammen und weinte, bis die Morgendämmerung die Nacht grau färbte.
    Mathias kümmerte sich auch um die etwas generelleren neurologischen Fälle. Einer davon war ein Polizist aus dem Bergener Präsidium. Als sich der etwa Fünfzigjährige nach der Untersuchung wieder anzog, verströmte er eine fast schon betäubende Mischung aus Körpergeruch und Alkoholdunst.
    “Und? “, polterte der Polizist, als wäre Mathias einer seiner Untergebenen.
    “Neuropathie im Anfangsstadium”, erklärte Mathias. “Die Nerven an Ihren Fußsohlen sind geschädigt. Verminderte Empfindsamkeit. “
    “Kann es sein, dass ich deshalb manchmal durch die Gegend taumele wie so ein Scheiß-Säufer? “
    “Sind Sie ein Säufer, Rafto?”
    Der Polizist erstarrte, und die Röte stieg an seinem Hals in die Höhe wie die Quecksilbersäule in einem Thermometer. “Verdammt noch mal, was erlauben Sie sich, Sie Hosenscheißer!”
    “In der Regel führt erhöhter Alkoholkonsum zu Polyneuropathie. Wenn Sie so weitermachen, riskieren Sie bleibende Hirnschäden. Haben Sie schon mal von Korsakow gehört, Rafto? Nicht? Dann wollen wir mal hoffen, dass das auch so bleibt, denn wenn Sie diesen Namen hören, dann in der Regel in Verbindung mit dem äußerst unschönen Syndrom, das nach ihm benannt ist. Ich weiß nicht, was Sie sich antworten, wenn Sie in den Spiegel schauen und sich selbst fragen, ob Sie Alkoholiker sind, aber ich möchte Ihnen vorschlagen, sich beim nächsten Mal noch eine weitere Frage zu stellen: >Will ich jetzt sterben oder lieber ein bisschen später?”<
    Gert Rafto starrte den Jungen im Arztkittellange an. Dann fluchte er leise, marschierte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
    Vier Wochen später rief Rafto wieder an. Er fragte, ob Mathias kommen und ihn untersuchen könne.
    “Kommen Sie morgen hierher”, empfahl Mathias. “Ich kann nicht. Es eilt.”
    “Dann gehen Sie zur Ambulanz.”
    “Jetzt hören Sie mir mal zu, Lund-Helgesen. Ich liege seit drei Tagen im Bett, ohne mich rühren zu können. Sie sind der Einzige, der mich ganz offen gefragt hat, ob ich Alkoholiker bin. Ja, das bin ich. Und nein, ich will nicht sterben. Noch nicht.”
    Gert Raftos Wohnung stank nach Müll, leeren Bierflaschen und Gert Rafto. Zum Ausgleich fehlte jeglicher Essensgeruch, denn im ganzen Haus gab es keine Lebensmittel.
    “Ich werde Ihnen jetzt eine Injektion mit Vitamin B1 verabreichen “, erläuterte Mathias, als er die Spritze gegen das Licht hielt. “Die wird Sie wieder auf die Beine bringen.”
    “Danke”, sagte Gert Rafto. Fünf Minuten später schlief er schon.
    Mathias sah sich in der Wohnung um. Auf dem Schreibtisch stand ein Bild von Rafto mit einem dunkelhaarigen Mädchen auf der Schulter. An der Wand hingen Bilder, die vermutlich von einem Tatort stammten. Viele Bilder. Mathias starrte sie an. Nahm ein paar von ihnen herunter und betrachtete sie genauer. Mein Gott, wie nachlässig diese Mörder vorgegangen waren. Eine Ineffektivität, die besonders bei erstochenen oder erschlagenen Opfern zutage trat. Er öffnete die Schubladen und suchte nach weiteren Fotos. Fand Berichte, Notizen, ein paar Wertsachen: Ringe, Damenuhren, Halsketten. Und Zeitungsausschnitte. Er las sich alles durch. Immer wieder fiel Gert Raftos Name, der sich auf Pressekonferenzen gern über die Dummheit der Täter ausließ und dann lang und breit erklärte, wie er sie überführt hatte. Denn ganz offensichtlich hatte er sie alle überführt.
    Als Gert Rafto sechs Stunden später erwachte, war Mathias noch immer da. Er saß am Bett und hielt die Akten von zwei Mordfällen in der Hand.
    “Sagen Sie mal”, bat Mathias, “was sollte man bei einem Mord beachten, wenn man nicht geschnappt werden will?”
    “Meinen Zuständigkeitsbereich meiden”, erwiderte Rafto und sah sich nach etwas zu trinken um. “Wenn der Ermittler gut ist, haben Sie keine

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