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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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großer Kraft hierher geschleudert haben.
    Im gleichen Moment überkam ihn wieder dieses Gefühl. Wie im Spektrum vor ein paar Stunden - das Gefühl, beobachtet zu werden. Instinktiv knipste er die Taschenlampe aus, und das Dunkel breitete sich über ihn wie eine Decke. Er hielt den Atem an und lauschte. Nein, dachte er. Du darfst das nicht zulassen. Das Böse kann nicht von einem Besitz ergreifen. Im Gegenteil, es ist nur die Abwesenheit von etwas anderem, das Fehlen von Güte. Das Einzige, wovor du hier Angst haben musst, bist du selbst.
    Aber das ungute Gefühl wollte ihn nicht loslassen. Jemand starrte ihn an. Etwas. Die anderen. Das Mondlicht fiel auf eine kleine Lichtung am Bach, wo er den Umriss einer Person auszumachen glaubte.
    Harry schaltete die Taschenlampe wieder ein und leuchtete in Richtung Lichtung.
    Sie war es. Sie stand aufrecht und regungslos zwischen den Bäumen und sah ihn an, ohne zu blinzeln. Mit den gleichen großen, schläfrigen Augen wie auf dem Bild. Harrys erster Gedanke war, dass sie wie eine Braut gekleidet war. In Weiß. Und dass sie hier mitten im Wald stand wie vor einem Altar. Das Licht ließ sie glitzern. Harry holte zitternd Luft und fischte das Handy aus seiner Jackentasche. Bjorn Holm antwortete nach dem zweiten Klingeln.
    “Sperr alles ab”, befahl Harry. Sein Hals war trocken, rau. “Ich ruf inzwischen Verstärkung.”
    “Was ist denn passiert?” “Hier steht ein Schneemann!” “Ja und?”
    Harry erklärte.
    “Das Letzte habe ich nicht mitgekriegt”, rief Holm. “Die Verbindung ist so schlecht.”
    “Der Kopf”, wiederholte Harry. “Der Kopf gehört Sylvia Ottersen.”
    Am anderen Ende wurde es still.
    Harry bat Holm, den Spuren zu folgen, und legte auf.
    Dann ging er in die Hocke, lehnte sich an einen Baum, knöpfte den Mantel ganz zu und schaltete das Licht aus, um die Batterien zu schonen. Und dachte bei sich, dass er fast vergessen hatte, wie es schmeckte, das Dunkel.

TEIL 2
KAPITEL 10
    4. Tag. Kreide
    Es war halb vier Uhr morgens, als Harry todmüde seine Wohnungstür aufschloss. Er zog sich aus und ging direkt unter die Dusche. Versuchte nicht nachzudenken, während das glühend heiße Wasser seine Haut lähmte, die angespannten Muskeln massierte und seinen durchfrorenen Körper auftaute. Sie hatten mit Rolf Ottersen gesprochen, aber die weiteren Verhöre konnten bis morgen warten. Oben in Sollihogda hatten sie die Befragung bei den Nachbarn längst abgeschlossen, so viele gab es da ja nicht. Aber die Spurensicherung und die Hunde waren noch immer im Einsatz und würden das wohl auch noch die ganze Nacht sein. Sie hatten nur eine kurze Zeitspanne, bis die Spuren unbrauchbar wurden, weil neuer Schnee darauf fiel oder es taute. Er drehte die Dusche ab. Der Dampf vernebelte das ganze Badezimmer, und als Harry den Spiegel abtrocknete, beschlug der sofort wieder aufs Neue, was sein Gesicht verzerrte und seinen nackten Körper seltsam konturlos erscheinen ließ.
    Er putzte sich gerade die Zähne, als das Telefon klingelte. “Harry.” “Stormann. Der Pilzmann.”
    “Sie rufen aber spät an”, sagte Harry überrascht. “Ich dachte, Sie sind auf der Arbeit.”
    “Wieso?”
    “In den Nachrichten wurde über diese Frau in Sollihogda berichtet, da hab ich Sie im Hintergrund gesehen. Ich hab die Ergebnisse des Tests.”
    “Und?”
    “Sie haben Schimmel in der Wohnung. Noch dazu eine ziemlich üble Sorte. Versicolor.”
    “Und das heißt?”
    “Dass es die in verschiedenen Farben gibt. Wenn man sie denn überhaupt sieht. Abgesehen davon bedeutet das aber auch, dass ich bei Ihnen noch weitere Wände einreißen muss.”
    “Hm.” Harry hatte die vage Vermutung, dass er mehr Interesse zeigen, sich mehr Sorgen machen oder wenigstens noch etwas fragen sollte. Aber das konnte er nicht, nicht nach dieser Nacht. “Dann fangen Sie eben an.”
    Harry legte auf und schloss die Augen. Wartete auf die Gespenster, die sich jetzt unvermeidlich einstellen würden. Es sei denn, er griff zur einzig hilfreichen Medizin, die er kannte. Vielleicht würde er in dieser Nacht aber auch jemand Neues kennenlernen. Er wartete förmlich darauf, dass sie aus dem Wald gekrochen kam, mit ihrem großen, weißen Körper ohne Beine, eine verwachsene Bowlingkugel mit Kopf, an deren schwarzen Augenhöhlen Krähen hockten und die letzten Reste der Augäpfel herauspickten, während die Lippen längst vom Fuchs gefressen worden waren, so dass ihn nur noch die entblößten Zähne angrinsten.

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