Schneemann
Vielleicht würde sie kommen, wer weiß, das Unterbewusstsein ist unberechenbar. So unberechenbar, dass er nach dem Einschlafen träumte, mit dem Kopf unter Wasser in einer Badewanne zu hängen, wo er das dumpfe Blubbern von Blasen und das Lachen einer Frau hörte. Auf der Emaille wuchs Seegras, das sich nach ihm ausstreckte wie die grünen Finger einer weißen Hand.
Das Morgenlicht fiel in hellen Rechtecken auf die Zeitungen, die auf dem Schreibtisch von Kriminaloberkommissar Gunnar Hagen lagen. Sylvia Ottersens Lächeln prangte auf den Titelseiten, begleitet von den Schlagzeilen: “Ermordet und geköpft”, “Im Wald enthauptet”, und - die kürzeste und vermutlich beste: “Enthauptet”.
Harrys eigener Kopf schmerzte schon seit dem Aufstehen. Jetzt hielt er ihn vorsichtig zwischen den Händen und dachte sich, dass es auch nicht schlimmer wäre, wenn er gestern tatsächlich getrunken hätte. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, aber Hagen sah ihn direkt an. Harry bemerkte, dass sich der Mund seines Gegenübers noch immer öffnete, schloss, verzog, kurz gesagt, dass er Worte formulierte, die Harry nur über eine schlecht eingestellte Frequenz erreichten.
“Und das bedeutet … “, fuhr Hagen fort, und Harry erkannte, dass es an der Zeit war, die Ohren zu spitzen, ” … dass diese Sache von nun an oberste Priorität hat. Wir werden also deine Ermittlungsgruppe aufstocken und … “
“Abgelehnt”, fiel Harry ihm ins Wort. Die Formulierung dieses einen Wortes fühlte sich in seinem Schädel wie eine Explosion an. “Wir können die Leute requirieren, wenn wir sie brauchen, aber vorläufig möchte ich, dass nur wir vier an den Besprechungen teilnehmen. Nur wir vier.”
Gunnar Hagen starrte ihn entgeistert an. Bei Mordfällen umfassten die Ermittlungsgruppen und Sonderkommissionen immer mindestens zwölf Mann. Sogar bei einfachen.
“Die Assoziationen und Gedanken sind in einer kleinen Gruppe freier”, fügte Harry hinzu.
“Assoziationen?”, rief Hagen verblüfft. “Wie wäre es denn mal mit normaler Polizeiarbeit? Mit Spuren und Indizien, Verhören, dem Sammeln von Informationen? Und wer soll die Datenkoordination übernehmen? Bei einer größeren Gruppe … “
Harry hob die Hand, um den Redeschwall abzuwürgen. “Das ist es ja gerade, ich will nicht darin ertrinken.”
“Ertrinken?” Hagen starrte Harry entgeistert an. “Dann sollte ich den Fall vielleicht lieber jemandem übertragen, der schwimmen kann.”
Harry rieb sich leicht die Schläfen. Er wusste, Hagen war klar, dass es auf dem Dezernat derzeit niemanden sonst gab außer Hauptkommissar Hole, der eine solche Ermittlung leiten konnte. Harry wusste überdies, dass es einem Gesichtsverlust für den neuen Kriminaloberkommissar gleichgekommen wäre, den Fall an das Kriminalamt abzutreten. Eher hätte er sich seinen stark behaarten rechten Arm abgehackt.
Harry seufzte: “Normale Kommissionen kämpfen schon damit, sich bei der aufkommenden Datenflut irgendwie über Wasser zu halten. Und das bereits bei einem gewöhnlichen Fall. Bei Enthauptungen auf den Titelseiten … ” Harry schüttelte den Kopf. “Die Leute werden wieder verrücktspielen. Nach dem kurzen Bericht in den Nachrichten gestern Abend gingen allein hundert Tipps ein. Du weißt schon, Besoffene, die üblichen Anrufer plus ein paar neue. Menschen, die einem erzählen können, dass der Mord in der Offenbarung des Johannes so beschrieben steht und so weiter. Heute sind es auch schon wieder zweihundert. Und warte nur, bis herauskommt, dass es noch mehr Leichen sein könnten. Lass uns mal davon ausgehen, dass wir zwanzig Leute brauchen, allein um diese Hinweise zu bearbeiten, alles zu überprüfen und Berichte zu schreiben. Lass uns ferner davon ausgehen, dass die Ermittlungsleitung zwei Stunden pro Tag aufwenden muss, um all die neuen Informationen zu lesen, zwei weitere, um sie zu koordinieren, und noch einmal zwei, um die Gruppe zu versammeln, sie zu informieren und alle Fragen zu beantworten. Dazu kommt dann noch eine halbe Stunde, um festzulegen, mit welchen Informationen man in die Pressekonferenz geht, die ihrerseits fünfundvierzig Minuten dauert. Das Schlimmste ist.,.”
Harry presste die Zeigefinger auf seine schmerzenden Kiefergelenke und schnitt eine Grimasse.
” … dass dieser Aufwand von Ressourcen bei einem normalen Mordfall vermutlich eine gute Investition ist. Weil es da draußen immer jemanden gibt, der etwas weiß und etwas gehört oder
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