Schneemann
sieht es so aus, als hätte Sylvia Ottersen die Schlachtung mittendrin abgebrochen, um mit dem Werkzeug in der Hand den Ort zu verlassen. Holm, kannst du die Körpertemperatur dieser Hühner messen und uns etwas über den Todeszeitpunkt sagen?”
“Jau, kein Problem.”
“Hä?” Skarre kapierte gar nichts mehr.
“Ich will wissen, wann sie hier abgehauen ist”, erläuterte Harry. “Konntest du was mit den Fußabdrücken da draußen anfangen?”
Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf. “Da sind zu viele Leute herumgelaufen, außerdem brauche ich mehr Licht. Ich habe reichlich Abdrücke von Rolf Ottersens Stiefeln gefunden sowie ein paar andere, die in die Scheune führen, aber keine nach draußen. Vielleicht ist sie aus der Scheune getragen worden?”
“Hm. Dann müsste es da tiefere Spuren geben. Von dem, der sie getragen hat. Schade, dass keiner durch das Blut gelaufen ist.” Harry kniff die Augen zusammen und blickte auf die dunkle Scheunenwand, bis zu der das Licht der Glühbirne nicht reichte. Vom Hof waren das Winseln eines Hundes und das Fluchen des Polizisten zu hören.
“Skarre, geh mal raus und guck nach, was da los ist”, bat Harry. Skarre verschwand, und Harry schaltete wieder die Taschenlampe ein und ging zur Wand. Er fuhr mit den Fingern über die groben Bretter.
“Oh, ist das … “, begann Holm, verstummte aber, als Harry gegen die Wand trat. Sie gab einen dumpfen Laut von sich, dann kam der Sternenhimmel zum Vorschein.
“Eine Hintertür”, sagte Harry und starrte auf die schwarze Silhouette der Fichten vor der schmutzig gelben Lichtkuppel, die über der Stadt lag. Dann richtete er den Schein der Lampe auf den Schnee. Der Lichtkegel fiel unmittelbar auf die Spuren.
“Zwei Personen”, stellte Harry fest.
“Es ist dieser Köter”, berichtete Skarre, als er zurückkam. “Der will nicht.”
“Er will nicht?” Harry folgte den Spuren mit dem Lichtkegel.
Der Schnee reflektierte das Licht, aber die Spuren verschwanden im Dunkel zwischen den Bäumen.
“Der Hundeführer kapiert es auch nicht. Er sagt, es sieht so aus, als hätte der Hund Angst. Auf jeden Fall weigert er sich, in den Wald zu gehen.”
“Vielleicht riecht er einen Fuchs”, mutmaßte Holm. “Hier gibt’s viele Füchse.”
“Füchse?”, schnaubte Skarre. “Dieses Riesenvieh hat doch wohl keine Angst vor einem Fuchs.”
“Vielleicht hat er noch nie einen Fuchs gesehen”, meinte Harry, “erkennt aber den Geruch eines Raubtiers. Es ist doch ganz rational, sich vor etwas zu fürchten, das man nicht kennt. Wer diese Angst nicht hat, lebt nicht lange.” Harry spürte, dass sein Herz schneller zu schlagen begann. Und er wusste, warum. Wald. Und Dunkel. Diese unbändige, vollkommen irrationale Angst, die es zu überwinden galt.
“Bis auf weiteres müssen wir das hier wie einen Tatort behandeln”, sagte Harry. “Fang schon mal mit der Arbeit an. Ich folge diesen Spuren.”
“Okay.”
Harry schluckte, bevor er durch die Hintertür trat. Es war fünfundzwanzig Jahre her, aber trotzdem setzte sich sein Körper zur Wehr.
Es war bei Großvater in den Herbstferien in Ändalsnes gewesen. Der Hof lag am Hang unter den mächtigen Romsdalsbergen. Harry war zehn Jahre alt und war ein Stück in den Wald gegangen, um nach der Kuh zu sehen, die Großvater rief. Er wollte sie vor ihm finden, vor allen anderen, und beeilte sich deshalb. Stürmte wie besessen über die weiche Blaubeerheide und die winzigen krummen Zwergbirken. Die Pfade kamen und gingen, während er geradewegs auf das Glockenläuten zulief, das er zwischen den Bäumen zu hören glaubte. Dann hörte er es wieder, etwas weiter rechts. Er sprang über einen Bach, duckte sich unter einem Baum hindurch und rannte mit schmatzenden Stiefeln über ein Moor, als er von einem Regenschauer überrascht wurde, der wie ein Schleier aus Wasser auf ihn zukam und den steilen Berghang duschte.
Bei all seinem Eifer hatte er nicht bemerkt, dass langsam die Dunkelheit hereinbrach, aus dem Moor nach oben gekrochen kam, zwischen den Bäumen heranschlich, sich wie schwarze Farbe auf die Felswände legte und am Grunde des Tals sammelte. Stattdessen blickte er nach oben und verfolgte einen großen Vogel, der hoch am Himmel seine Kreise zog. Dazu musste er den Kopf so weit in den Nacken legen, dass er hinter sich die Felswand sehen konnte. Und dann steckte plötzlich ein Stiefel fest, so dass er der Länge nach zu Boden schlug, ohne den Sturz noch mit den Armen abfangen zu
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