Schneemann
können. Alles wurde schwarz, Nase und Rachen waren mit einem Mal voller Moor, Tod, Fäulnis und Dunkelheit. In den wenigen Sekunden, die er im Matsch untergetaucht war, konnte er die Dunkelheit förmlich schmecken. Und als er wieder hochkam, fiel ihm auf, dass alles Licht verloschen war. Über die Berggipfel verschwunden, die plötzlich stumm und schwer über ihm aufragten und ihm zuflüsterten, dass er nicht wusste, wo er war, dass er schon lange die Orientierung verloren hatte. Ohne zu bemerken, dass er einen Stiefel verloren hatte, rappelte er sich hoch und begann zu laufen. Er musste doch bald etwas sehen, das er kannte. Aber die Landschaft war mit einem Mal wie verzaubert, und die Steine sahen aus wie die Köpfe von Zauberwesen, die aus der Erde wuchsen und mit Heidefingern nach seinen Beinen griffen. Die Zwergbirken waren Hexen, die sich vor Lachen krümmten und ihn in die Irre schickten, mal nach Hause, mal in die Verdammnis, mal zur Großmutter und mal hinein ins große, schwarze Loch, dorthin, wo das Moor zum Abgrund wurde, in dem Vieh, Menschen und ganze Wagen auf Nimmerwiedersehen verschwanden.
Es war fast Nacht, als Harry in die Küche taumelte und in Großmutters Arme fiel. Sein Vater, sein Großvater und alle Erwachsenen des Nachbarhofes waren längst auf der Suche nach ihm. Sie fragte ihn, wo er gewesen sei.
Im Wald.
Aber ob er denn nicht ihr Rufen gehört hätte? Sie hätten immer wieder seinen Namen gerufen, die ganze Zeit.
Er selbst erinnerte sich nicht mehr daran, doch später war ihm mehrfach erzählt worden, wie er vor Kälte zitternd auf der Ofenbank hockte, apathisch vor sich hin starrte und schließlich antwortete: “Ich dachte, da hätte jemand anderes gerufen.”
“Wer sollte denn das gewesen sein?”
“Na, die anderen. Großmutter, weißt du eigentlich, dass man die Dunkelheit schmecken kann?”
Harry war erst ein paar Meter im Wald, als sich eine intensive, fast unnatürliche Stille um ihn legte. Er leuchtete mit der Taschenlampe auf den Weg, denn jedes Mal, wenn er den Lichtkegel in den Wald hineinschweifen ließ, rannten die Schatten wie aufgeschreckte Geister zwischen den Bäumen entlang, bis sie im schweigenden Dunkel verschwanden. Aber es vermittelte ihm kein Gefühl von Sicherheit, inmitten dieser Finsternis in einer Blase aus Licht gefangen zu sein. Im Gegenteil. Durch den stockfinsteren Wald zu tappen, während er für seine Umgebung gewiss mehr als sichtbar war, flößte ihm das Gefühl ein, nackt und schutzlos zu sein. Zweige kratzten ihm über das Gesicht wie die Finger eines Blinden, der die Züge eines unbekannten Menschen zu ertasten versucht.
Die Spuren führten zu einem Bach, der glucksend seinen eigenen, raschen Atem übertönte. Dann verschwand eine der Spuren, während die andere dem Bach nach unten folgte.
Er ging weiter. Der Bach schlängelte sich mal hierhin, mal dorthin, aber er hatte keine Sorge, sich zu verlaufen, da er ja nur seine Spuren zurückverfolgen musste.
Ganz in der Nähe schrie warnend eine Eule. Das Ziffernblatt seiner Uhr glühte grün und sagte ihm, dass er bereits eine Viertelstunde unterwegs war. Es war an der Zeit, kehrtzumachen und einen ordentlich ausgerüsteten Suchtrupp mit einem Hund loszuschicken, der keine Angst vor Füchsen hatte.
Harrys Herz stockte.
Es war direkt an seinem Gesicht vorbeigestrichen. Vollkommen lautlos und so rasch, dass er nichts gesehen hatte. Nur der Luftzug hatte es verraten. Dann hörte Harry das Geräusch von Federn auf Schnee und das wimmernde Piepsen eines kleinen Nagers, der gerade zu Beute geworden war.
Langsam atmete er aus, leuchtete ein letztes Mal in den Wald und drehte um. Doch nach einem Schritt blieb er wieder stehen. Er wollte zurück zum Hof gehen, einen Schritt nach dem anderen, tat dann aber doch, was er tun musste. Er schwang die Taschenlampe herum. Und da war es wieder. Ein Blitzen, ein Lichtreflex, den es mitten im Wald so nicht geben durfte. Er näherte sich dem Blitzen. Sah sich um und versuchte, sich die Stelle zu merken. Es war ungefähr fünfzehn Meter vom Bach entfernt. Er hockte sich hin. Nur der Stahl ragte heraus, aber er brauchte den Schnee gar nicht wegzuschieben, um zu wissen, was das war. Ein Beil. Ein kleines Beil. Sollte sich auf der Klinge einmal Hühnerblut befunden haben, war es längst weggewaschen. Rund um das Beil gab es keine Fußspuren. Harry leuchtete herum und sah ein paar Meter entfernt einen abgetrennten Zweig auf dem Schnee. Jemand musste das Beil mit
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