Schneemann
Gunnar? Der Mann ist Alkoholiker. Jeder hier im Haus weiß, dass er bei Fenris getrunken hat und seither nicht wieder an seinem Arbeitsplatz erschienen ist. Wenn wir das akzeptieren, setzen wir einen derart niedrigen Standard, dass der Schaden kaum wiedergutzumachen sein wird.”
“Aber kündigen? Können wir nicht … “
“Er hat genug Warnungen bekommen. Was Alkohol angeht, sind die Vorschriften für den Staatsdienst vollkommen eindeutig.”
Das Gespräch hallte noch in seinen Ohren nach, als er etwas später erneut an die Tür des Kriminalchefs klopfte und hereingerufen wurde.
“Er ist gesehen worden”, verkündete Hagen. “Wer?”
“Hole. Li hat mich angerufen und gesagt, sie habe ihn in seinem Büro verschwinden sehen.”
“Na dann.” Der Kriminalchef stand auf. “Bringen wir es lieber gleich hinter uns.”
Sie stapften über den Flur. Und als ob die Menschen witterten, was sich hier ankündigte, streckten sie die Köpfe aus ihren Büros und sahen den beiden Männern nach, die mit verbissenem Gesicht an ihnen vorbeiliefen.
Als sie die Tür mit der Nummer 616 erreicht hatten, blieben sie stehen.
Hagen holte tief Luft.
“Torleif … “, begann er noch einmal, aber dieser hatte bereits die Hand auf die Klinke gelegt und die Tür aufgerissen.
Ungläubig blieben sie auf der Schwelle stehen und starrten ins Büro.
“Mein Gott”, flüsterte der Kriminalchef.
Hinter dem Tisch saß Harry Hole in einem T-Shirt und mit einem Gummiband um seinen rechten Oberarm. Sein Kopf war nach vorne gesackt. Aus der Haut unmittelbar unter dem Gummiband ragte eine Spritze mit durchsichtigem Inhalt. Sogar von der Tür aus sahen sie die zahlreichen roten Einstichstellen auf der milchweißen Haut.
“Was zum Teufel tun Sie da?”, fauchte der Kriminalchef, schob Hagen ins Büro und zog ruckartig die Tür hinter sich zu.
Harrys Kopf fuhr hoch, und er sah sie abwesend an. Da bemerkte Hagen die Stoppuhr in seiner Hand. Plötzlich riss Harry die Spritze heraus, blickte auf den verbliebenen Inhalt, warf sie weg und notierte etwas auf einem Zettel.
“Das … das macht uns die Sache noch leichter, Hole”, stammelte der Kriminalchef. “Denn wir haben schlechte Neuigkeiten.”
“Ich habe schlechte Neuigkeiten, meine Herren”, eröffnete Harry den Männern, zog einen Wattebausch aus dem Beutel auf dem Tisch und drückte ihn fest auf seinen Unterarm. “Idar Vetlesen kann sich unmöglich selbst das Leben genommen haben. Und Sie verstehen sicher, was das bedeutet?”
Gunnar Hagen verspürte einen seltsamen Drang zu lachen. Die ganze Situation erschien ihm derart absurd, dass sein Hirn einfach zu keiner adäquaten Reaktion in der Lage war. Und dem Gesicht des Kriminalchefs entnahm er, dass auch er nicht wusste, was er tun sollte.
Harry warf einen Blick auf die Uhr und stand auf. “Kommen Sie in einer Stunde ins Sitzungszimmer, dann werde ich Ihnen erläutern, warum”, kündigte er an. “Vorher muss ich aber noch ein paar andere Dinge erledigen.”
Der Hauptkommissar schob sich eilig an seinen beiden verblüfften Vorgesetzten vorbei, öffnete die Tür und verschwand mit langen, festen Schritten über den Flur.
Eine Stunde und vier Minuten später betrat Gunnar Hagen in Begleitung des Kriminalchefs und des Polizeipräsidenten das Sitzungszimmer; sie suchten sich ein paar Stehplätze. Es war totenstill. Der Raum war brechend voll. Alle Leute von Lepsviks Sonderkommission und auch Harrys eigene kleine Truppe waren gekommen. Nur Harry Holes Stimme war zu hören. Auf der Leinwand prangte ein Bild von Idar Vetlesen, wie sie ihn in der Curlinghalle gefunden hatten.
“Wie Sie sehen können, hält Vetlesen die Spritze in der rechten Hand”, sagte Harry Hole. “Daran ist nichts Auffälliges, da er Rechtshänder ist. Aber bei seinen Stiefeln bin ich stutzig geworden, sehen Sie hier.”
Ein weiteres Bild zeigte die Stiefel in Großaufnahme.
“Diese Stiefel sind das einzige wirkliche Indiz, das wir haben. Aber das reicht ja. Weil die Abdrücke mit denen übereinstimmen, die wir oben in Sollihogda gefunden haben. Aber schauen Sie sich bitte mal die Schnürriemen an.” Hole zeigte mit einem Stab auf das Foto. “Ich habe das gestern mit meinen eigenen Stiefeln getestet. Wenn der Knoten so rum sein soll, muss ich ihn genau andersrum binden, als ich es sonst tue. Als ob ich Linkshänder wäre. Oder ich stelle mich vor den Stiefel und binde ihn so, als würde ich zum Beispiel jemand anders die Schuhe zuschnüren.
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