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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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her, dann können wir der guten alten Zeiten gedenken. Der alten Gespenster, die wir gemeinsam verjagt haben, der Nächte, in denen wir geschlafen haben.”
    Andererseits, vielleicht auch nicht.
    Harry bemerkte die Kollegen kaum, und sie nahmen auch ihn nicht wirklich wahr. Als er in die protzige Bar mit ihrem plüschig roten Tanzschiffinterieur getreten war, waren die anderen bereits reichlich angetrunken. Sie hingen sich in den Armen, brüllten mit ihrem Alkoholatem wild durcheinander und sangen mit Stevie Wonder um die Wette, der behauptete, bloß anzurufen, um zu sagen, dass er dich liebe. Sie erinnerten an eine Fußballmannschaft, die gerade das Pokalfinale gewonnen hat. Und als Wonder mit der Versicherung schloss, seine Liebeserklärung komme wirklich aus tiefstem Herzen, stand bereits der dritte Drink vor Harry auf dem Tresen.
    Der erste hatte alles gelähmt, ihm war schier der Atem weggeblieben. So musste es sich anfühlen, wenn man Carnadrioxid bekam. Beim zweiten drehte sich ihm fast der Magen um, doch da hatte sein Körper den größten Schock bereits überwunden und kapierte, dass er endlich bekam, worum er so lange gebettelt hatte. Die Antwort war schnurrendes Wohlbehagen. Die Wärme durchströmte ihn. Das war Musik für seine Seele.
    “Du trinkst?”
    Plötzlich stand Katrine neben ihm.
    “Das ist der letzte”, behauptete Harry und spürte, dass seine Zunge nicht mehr geschwollen war, sondern schlank und geschmeidig. Der Alkohol verbesserte seine Artikulation. Und bis zu einem gewissen Punkt sahen ihm die Menschen kaum an, dass er betrunken war. Nur deshalb hatte er seinen Job noch nicht verloren.
    “Das ist nicht der letzte”, korrigierte Katrine. “Das ist der erste.” “Das ist einer der Lehrsätze der Anonymen Alkoholiker.” Harry blickte zu ihr auf. Die intensiven blauen Augen, die schlanken Nasenflügel, die prallen Lippen. Sie sah so verdammt gut aus. “Bist du Alkoholikerin, Katrine Bratt?”
    “Ich hatte einen Vater, der Alkoholiker war.”
    “Hm. Wolltest du sie deshalb in Bergen nicht besuchen?” “Besucht man nicht Leute, gerade weil sie krank sind?”
    “Ich weiß nicht. Vielleicht hast du seinetwegen eine unglückliche Kindheit gehabt oder so.”
    “Er war zu spät dran, um mich unglücklich zu machen. Ich bin so auf die Welt gekommen.” ” Unglücklich?” “Vielleicht. Und du?”
    Harry zuckte mit den Schultern. “Natürlich.”
    Katrine nippte an ihrem eigenen Drink, eine klare Sache. Wodkaklar, nicht gingrau, fuhr es ihm durch den Kopf.
    “Und worauf gründet sich dein Unglück, Harry?”
    Die Worte kamen, bevor er nachdenken konnte: “Dass ich jemanden liebe, der mich liebt.”
    Katrine lachte. “Du Ärmster. Bist du harmonisch und unbeschwert durch die Welt gegangen, bis dich irgendwas kaputtgemacht hat? Oder war dein Weg von Anfang an vorgezeichnet?” Harry starrte in die bräunlichgoldene Flüssigkeit in seinem eigenen Glas. “Es gibt Tage, da frage ich mich das auch. Aber die sind nicht so häufig. Ich versuche, an andere Sachen zu denken.” “An was zum Beispiel?”
    “Andere Sachen.”
    “Kommt es auch vor, dass du an mich denkst?”
    Jemand stieß sie von hinten an, so dass sie ihm noch näher kam.
    Er roch, wie sich das Parfüm von Katrine Bratt mit dem von Jim Beam mischte.
    “Nie”, behauptete er, nahm sein Glas und kippte es herunter. Er starrte auf die Spiegelwand hinter den Flaschen und sah Katrine Bratt und Harry Hole viel zu dicht beieinander stehen. Sie beugte sich vor.
    “Harry, du lügst.”
    Er drehte sich wieder zu ihr. Ihr Blick glomm gelb und verschwommen wie die Nebelleuchten eines entgegenkommenden Autos. Ihre Nasenflügel blähten sich, und sie atmete schwer. Es roch, als hätte sie Limonensaft im Wodka.
    “Sag mir mal ganz genau und ausführlich, worauf du gerade Lust hast, Harry.” Ihre Stimme klang rau. “Alles. Und lüg mich nicht wieder an.”
    Ihm kam das Gerücht in den Sinn, das Espen Lepsvik in Umlauf gebracht hatte. Über die Vorlieben von Katrine Bratt und ihrem Ehemann. Bullshit, es kam ihm nicht erst jetzt in den Sinn, es war die ganze Zeit da gewesen, ganz vorne in seiner Hirnrinde. Er holte tief Luft. “Okay, Katrine. Ich bin ein einfacher Mann mit einfachen Bedürfnissen.”
    Sie hatte den Kopf zurückgelegt, wie es manche Tiere tun, um Unterwerfung zu signalisieren. Er hob das Glas. “Ich habe Lust zu trinken.”
    Katrine bekam einen kräftigen Stoß von einem taumelnden Kollegen und fiel auf Harry. Harry

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