Schneemann

bloß Arve, so stand es jedenfalls neben dem Klingelknopf, den Harry drückte. Der Aufgang war funktionell und minimalistisch, abgesehen von zwei handgemalten Vasen rechts und links der Eichentür. Harry fragte sich, wie viel Geld er wohl machen könnte, wenn er mit einer davon abhaute.
    Nach dem zweiten Klingeln hörte er schließlich Stimmen von drinnen. Ein helles Zwitschern und eine tiefe, ruhige Männerstimme. Als sich die Tür öffnete, plätscherte das Lachen einer Frau heraus. Sie trug eine weiße Pelzmütze - synthetisch, dachte Harry -, unter der ihre blonden Haare hervorströmten.
    “Ich freue mich!”, sagte sie, drehte sich um, und erst in diesem Moment fiel ihr Blick auf Harry.
    “Hallo!”, grüßte sie neutral, ehe sie ihn plötzlich wiedererkannte und enthusiastisch ausrief: “Aber hallo, was machst du denn hier?”
    “Hallo”, brummte Harry.
    “Wie geht’s dir?”, fragte sie, und Harry bemerkte, dass ihr erst jetzt wieder einfiel, wie ihr letztes Gespräch verlaufen war. Mit seinem allzu abrupten Ende.
    “Sie kennen Oda?” Arve Stop stand mit verschränkten Armen in der Tür. Er hatte nackte Füße, trug ein T-Shirt mit einem unscheinbaren Louis-Vuitton- Logo und eine grüne Leinenhose, die an jedem anderen Mann feminin ausgesehen hätte. Doch Arve Stop war beinahe so groß und breit wie Harry, und für sein Gesicht hätte jeder amerikanische Präsidentschaftskandidat gemordet: entschlossenes Kinn, jugendlicher blauer Blick, Lachfalten und dichtes graues Haar.
    “Wir sind uns schon mal vorgestellt worden, ja”, bestätigte Harry. “Ich war mal Gast in ihrer Talkshow.”
    “Jetzt muss ich aber los, ihr beiden”, verkündete Oda, warf ihnen einen Kuss durch die Luft zu und hastete die Treppe hinunter. Ihr Fußgetrappel auf den Stufen hörte sich an, als liefe sie um ihr Leben.
    “Ja, genau um diese grässliche Talkshow ging es jetzt auch”, erklärte Stop, bat Harry einzutreten und gab ihm die Hand. “Ich fürchte, mein Exhibitionismus nähert sich langsam einem kritischen Punkt. Dieses Mal habe ich nicht einmal mehr gefragt, worum es geht, bevor ich zugesagt habe. Oda war aus Recherchegründen hier. Aber Sie haben es ja selbst schon mal mitgemacht, da wissen Sie ja, wie das läuft.”
    “Bei mir haben sie bloß angerufen”, sagte Harry und spürte die Wärme von Arve Stops Hand noch immer auf seiner Haut.
    “Sie haben sich am Telefon sehr ernst angehört, Herr Hole. Womit kann Ihnen ein jämmerlicher Journalist dienen?”
    “Es geht um Ihren Arzt und Curlingpartner, Idar Verlesen.” “Ach ja, Verlesen, natürlich. Wollen wir nicht reingehen?” Harry streifte seine Stiefel ab und folgte Stop durch den Flur
    in ein Wohnzimmer, das zwei Stufen tiefer lag als der Rest der Wohnung. Ein Blick genügte, und man wusste, woher Idar die Inspiration für sein Wartezimmer hatte. Draußen vorm Fenster blinkte das Mondlicht auf dem Fjord.
    “Sie betreiben also jetzt eine Art a-priori-Ermittlung?”, fragte Stop und ließ sich auf das kleinste Möbelstück - einen einfachen, gegossenen Stuhl-fallen.
    “Wie bitte?”, fragte Harry und setzte sich aufs Sofa.
    “Sie beginnen mit dem Fazit und arbeiten sich von da aus sozusagen rückwärts vor, um zu verstehen, wie das alles abgelaufen ist. “
    “Das ist also mit >a priori< gemeint?”
    “Keine Ahnung. Aber dieses Latein hört sich immer so toll an, finde ich.”
    “Hm. Und was halten Sie von unserem Fazit? Glauben Sie daran?”
    “Ich?” Stop lachte. “Ich glaube an gar nichts. Aber das ist ja auch mein Beruf. Sobald etwas zu einer etablierten Wahrheit wird, ist es mein Job, dagegenzuargumentieren. Genau das versteht man schließlich unter Liberalismus.”
    “Und in diesem Fall?”
    “Tja. Auf jeden Fall fehlt mir bei Vetlesen das rationale Motiv. Oder er müsste wirklich schwer verrückt gewesen sein.” “Sie glauben also nicht, dass Vetlesen der Mörder ist?”
    “Wenn ich dagegenargumentiere, dass die Erde rund ist, muss ich noch lange nicht glauben, dass sie eine Scheibe ist. Ich gehe davon aus, dass Sie Beweise haben. Möchten Sie einen Drink? Einen Kaffee?”
    “Einen Kaffee, gerne.”
    “Das war ein Bluff”, gab Stop lächelnd zu. “Ich hab nur Wasser oder Wein. Ach nee, stimmt nicht, ich hab auch noch Apfelcidre vom Abbediengen-Hof. Und den müssen Sie probieren, ob Sie wollen oder nicht.”
    Stop verschwand in die Küche, und Harry stand auf, um sich in der Wohnung umzusehen.
    “Nette kleine Wohnung haben Sie da,