Schneerose (German Edition)
depressive
Tochter sein. Doch ehe er dazu in der Lage ist, sie auf ihre gravierende
Veränderung anzusprechen, springt sie von ihrem Stuhl auf, drückt ihm einen
Kuss auf die Wange und rauscht durch die Tür. Er weiß nicht, was er davon
halten soll. Zwar hat er sich immer gewünscht, dass sie sich endlich ändern und
zur Vernunft kommen würde, doch mit so einer plötzlichen Wandlung hat er nicht
gerechnet.
Während der
Fahrt in ihrem alten VW Golf durch die kahle Alleestraße von der Manor Road zu
der Scarborough Grammar School pfeift der Wind eisig durch das undichte
Fenster. Ihr Vater würde ihr jederzeit mit größter Freude ein neueres,
schnelleres und allgemein schöneres Auto schenken, doch Lia weiß, dass das
nichts weiter als rausgeschmissenes Geld wäre. Denn es wäre schade, wenn das
neue Auto bereits nach einem Tag auf dem Schulparkplatz mit Kratzern und
Kaugummis ihrer aufmerksamen Mitschüler übersät wäre. Dem alten Golf schadet
das nicht. Die Kratzer im einst schwarzen Lack kann sie schon nicht mehr zählen
und das, obwohl sie extra schon ein paar Straßen von der Schule entfernt parkt.
Aber davon will
sie sich heute nicht ihre gute Laune verderben lassen und so dreht sie das
Radio lauter, als „Rebel yell“ von Billy Idol läuft, einer ihrer absoluten
Lieblingssongs.
„Last
night a little dancer
Came dancin' to my door“
Die Blicke der
anderen sind unbezahlbar. Damit haben sie nicht gerechnet. Die schwache Lia,
die sich von allen demütigen lässt und sich aus lauter Angst in der hintersten
Ecke versteckt, gibt es schlagartig nicht mehr. Zwar hat sie immer noch ihren
alten Platz, doch sitzt sie nun aufrecht und mit erhobenem Kopf da. Zum ersten
Mal seit langer Zeit ist sie wieder in der Lage, Mr. Attkins zuzuhören, anstatt
den Lästereien von Tracy und Sarah in der Reihe vor sich zu lauschen. Egal, wie
laut sie heute auch schimpfen, es verletzt Lia nicht mehr. Einzig der Gedanke
an schwarz gewellte Haare auf ihrer nackten Haut lässt sie abschweifen und mit
einem glückseligen Lächeln wieder aufhorchen.
Mr. Attkins hat
ihre Veränderung auch bemerkt. Er ist es nicht gewöhnt, dass irgendjemand
wirklich aufmerksam seinen Unterricht verfolgt. Wenn sein Blick den ihren
streift, gerät er immer wieder in ein verwirrtes Stottern. Mittlerweile haben
sie im Unterricht das Jahr 1914 erreicht, in dem im November an der deutschen
Westfront ein System aus Schützengräben entstand und der Grabenkrieg begann.
Plötzlich schweigt Mr. Attkins und wippt aufgeregt auf seinen Fußballen vor und
zurück. Seine Augen wandern über die Klasse, ein erfolgloser Versuch, sich die
Aufmerksamkeit zu sichern. Unbeirrt fährt er jedoch fort. Im Dezember sei dann
etwas Unglaubliches geschehen. Er rechnet nicht damit, dass irgendjemand gut
genug zuhört, um sich zu melden, und so blinzelt er zweimal ganz irritiert, als
ausgerechnet Lias Hand in die Höhe schnellt.
„Ja…Liandra?“,
fragt er fast scheu. Er erscheint Lia auf einmal gar nicht mehr wie der kleine
Giftzwerg vom Vortag, sondern eher wie ein Mann, der auf Grund seiner Größe an
mangelndem Selbstbewusstsein leidet.
„Im Dezember war
der Weihnachtsfrieden.“
Seine Augen
leuchten und funkeln euphorisch, als er erfreut die Hände zusammenklatscht.
„Ganz genau,
können Sie uns erklären, was damit gemeint ist?“. Seine Stimme überschlägt sich
fast vor lauter Aufregung und Begeisterung.
„Es war ein
kurzzeitiger Waffenstillstand zwischen den deutschen und britischen Soldaten zu
Ehren des Weihnachtsfests. Teilweise haben sie sogar Verbrüderungsgesten
ausgetauscht.“
Mr. Attkins
nickt erst zufrieden, um danach ein betrübtes Gesicht aufzusetzen.
„Ja, und das
alles nur, um nach Weihnachten mit demselben Krieg fortzufahren, in dem die
Soldaten nur Werkzeuge waren.“
Er gleitet
wieder ab in einen seiner Monologe, doch mit einem viel glücklicheren Gesicht
als Lia es in dem ganzen letzten Jahr bei ihm gesehen hätte. Vielleicht ist es
ihr nur nie aufgefallen, aber Mr. Attkins Freude ist ansteckend. Geschichte ist
viel interessanter, als sie dachte. Man kann daraus jede Menge für das heutige Leben lernen.
Fehler der Vergangenheit müssen nicht in der Zukunft wiederholt werden. Warum
hat sie das vorher nur nie gesehen?
Bevor Mr.
Attkins sie alle in die Pause entlässt, wünscht er ihnen schon mal ein schönes
Weihnachtsfest. Es ist ihre letzte Geschichtsstunde vor den Winterferien und
dem Start ins neue Jahr. Außerdem
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