Schneerose (German Edition)
weg. „Ich
bin doch nur dein Fußabtreter. Ich wette, selbst Bradley würdest du mir
vorziehen.“
Verletzt
schüttelt Lia den Kopf. „Es tut mir wirklich leid. Wir sind doch Freunde.“
Seitdem
sie denken kann, ist Mike ihr bester Freund. Schon als Kind war sie immer etwas
eigenartig, sehr still und ungewöhnlich ernst. Sie war nie beliebt und immer
eine Außenseiterin. Mike erging es da nicht viel besser, wozu aber auch seine
Freundschaft mit Lia beitrug. Doch so richtig schlimm wurde es erst, als Lia in
die Pubertät kam und die Discotheken der Stadt zu ihrem nächtlichen Zuhause
wurden.
Es
fing mit leisem Getuschel hinter ihrem Rücken an, doch mittlerweile wäre Lia
froh, wenn es nur das wäre. Sie hatte gehofft, die
anderen würden schnell die Freude daran verlieren, wenn sie einfach nicht
darauf eingeht. Doch ganz im Gegenteil: Je mehr sie ihren Spott ignoriert, umso
einfallsreicher werden sie. Je weniger sie auf ihre Beleidigungen eingeht, umso
grausamer werden ihre Angriffe.
„Freunde
verletzen einander nicht!“, gibt ihr Mike kalt zur Antwort, bevor er aus der
Toilette stürmt. Lias Lippen beben und schließlich rollt ihr die erste Träne
über die Wange. Als sie Lindsays warmen Finger auf ihrem Oberarm spürt, bricht
der Damm endgültig und sie fängt leise zu schluchzen an.
„Ich
mach das doch nicht mit Absicht.“
Das
war es also mit der neuen selbstbewussten Lia. Wäre sie doch lieber mal das Reh
geblieben.
Obwohl
es erst Nachmittag ist und die Sonne sich noch viele zäh dahinziehende Stunden
am Himmel befinden wird, kann Orlando nicht genügend Ruhe zum Schlafen finden,
obwohl er sich immer noch völlig ausgelaugt fühlt. Er nickte mit smaragdgrünen
Augen im Kopf ein und wachte auch wieder mit ihnen auf.
Normalerweise
leckt er sich nach einer erfolgreichen Nacht mit Vorliebe über die Lippen und
denkt dabei an den süßen Geschmack des noch heißen Blutes zurück. Doch jetzt an
das Blut der schönen Fremden zu denken, erweckt in ihm Magenkrämpfe, während
die Erinnerung an ihren Körper bei ihm ganz andere Körperteile weckt.
Nichtschmeckendes
Blut, wie absurd! Und dann auch noch von einer so hübschen Frau. Das ist doch
ein Ding der Unmöglichkeit! Und nicht nur, dass es einfach nicht geschmeckt
hätte, es hätte ihn dazu auch fast noch umgebracht wie ein tödliches Gift.
Ein
zarter Windhauch bringt die Kerze zum Flackern. Rotglühende Augenpaare starren
Orlando aus der Dunkelheit entgegen.
„Komm
rein“, gibt Orlando grinsend von sich und ein kleiner Rotschopf im Alter von
vielleicht 14 Jahren betritt sein dunkles Gemach. Sie lässt sich neben ihn auf
sein schwarzes Samtbett plumpsen, wobei ihre Lockenmähne auf und ab hüpft.
„Kannst
du auch nicht mehr schlafen?“, fragt sie mit der dünnen Stimme eines
Kleinkinds.
Ein
besorgter Zug legt sich um Orlandos Mundwinkel, wobei er Mary ein Weinglas,
gefüllt mit dunkelroter Flüssigkeit, reicht.
„Hier,
trink das!“
Das
Mädchen setzt das Gefäß an die Lippen, um nach einem einzigen Schluck angewidert
den Mund zu verziehen.
„Es
schmeckt nicht. Es ist kalt und leblos!“
Wieder
gleiten seine Gedanken zu dem ungenießbaren Blut der Blondine.
„Ich
weiß…Hast du eigentlich auch schon mal Blut von einem Menschen gehabt, das
nicht geschmeckt hat?“
Verwirrt
und zugleich neugierig blickt Mary aus ihrem blassen Gesicht zu Orlando auf.
„Na
ja, man muss bei den Obdachlosen manchmal den Gestank ausblenden, aber sobald
der erste Tropfen ihres heißen Blutes sich auf der Zunge ausbreitet, ist das
auch schon vergessen.“ Sehnsüchtig leckt sie sich über ihre dunkelroten Lippen.
„Das
meine ich nicht. Ich meine Blut, von dem man nicht einen Schluck nehmen kann,
weil es so entsetzlich brennt, dass man das Gefühl hat, es ätzt einem die
Speiseröhre weg.“
Sie
legt ihre kleine Stirn in Falten und mustert Orlando aufmerksam.
„Wovon
sprichst du? Warst du gestern wieder unterwegs?“
„War
nur so ein Gedanke“, versucht Orlando sie abzuwimmeln, doch da hat er bei Mary
schlechte Karten. Ihre Neugier ist geweckt.
„Orlando,
du kannst vielleicht jedem anderen etwas vormachen, aber mir nicht. Erzähl es
mir, ich verrat es auch keinem. Großes Indianerehrenwort!“ Zum Zeichen ihrer
Ehrlichkeit hebt sie ihre rechte Hand über ihrem toten Herzen. Da Orlando sie
nur zögernd und zweifelnd anblickt, quengelt sie weiter, um ihren Willen zu
bekommen.
„Bitte!
Wegen dir stecke ich für immer im Körper einer
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