Schneerose (German Edition)

mit
Küssen, während sich ihre Tränen miteinander vermischen. Vergeben und vergessen
ist jedes böse Wort.
    „Endlich hab ich dich wieder, Schneerose“, murmelt
er ihr mit brüchiger Stimme ins Ohr. Ihre Flügel hat er bemerkt, aber sie sind
bedeutungslos für ihn. Alles was zählt ist Liandra selbst.
    Sein Atem ist eine Liebkosung auf ihrer bleichen
Haut und lässt sie erschauern. Ihre Hände streicheln über sein schmutziges
Gesicht und wischen die Tränen fort. Das Blau seiner Augen ist für sie wie der
Himmel auf Erden. Sie sind wie ein Spiegel zu seiner Seele, der mit einem
Schlag zerbricht. Tiefrotes Blut spritzt in ihr Gesicht, wo zuvor noch seine
Küsse waren. Lias Herz wird von einer unsichtbaren Hand ergriffen und
zerquetscht, während aus Orlandos Brust sein Leben sprudelt und im Sand
verläuft. Er geht auf die Knie. Victors hasserfüllte Augen starren ihr
entgegen. ‚ Warum? Warum? Warum?’ , kreischt es schrill in ihrem Kopf.
Victor ist doch ein Vampir. Ihre gesamte Aufmerksamkeit gehört Orlando. Sie
schmeißt sich neben ihn zu Boden und bettet seinen Körper auf ihren Schoss.
Würde Victor sie in diesem Moment ebenfalls töten, wäre es ihr egal. Sie sieht
wie langsam das Leben aus Orlandos Augen weicht.
    „Verlass mich nicht!“, fleht sie ihn an und ihre
Tränen tropfen auf sein Gesicht. Ein schneller Biss in ihr Handgelenk und schon
sickert ihr Blut in seinen geöffneten Mund. Sie hat bereits einmal ein Leben
damit gerettet, es muss auch ein zweites Mal funktionieren. Doch Orlando
beginnt nur unter Qualen zu husten. Ihr Blut lässt ihn würgen und nimmt ihm die
Luft zum atmen. Verzweifelt ergreift er ihre Hand und drückt sie von seinen
Lippen.
    Victors Hand schließt sich fest um Lias Haar und
reißt sie zurück. Sein Mund ist zu einem stummen Schrei verzerrt, dabei sieht
Lia dass seine Zunge fehlt. Seine Augen sind weit aufgerissen, seine Pupillen
riesig und tiefschwarz. Der Wahnsinn steht in sein Gesicht geschrieben. Hat ihm
das etwa Orlando angetan? Hasst er ihn deshalb so sehr?
    Hätte sie eine Waffe würde sie ihm diese tief in
sein kaltes Herz bohren, doch stattdessen streift die Klinge seines Schwertes
über ihren freigelegten Nacken. Soll er es doch endlich zu Ende bringen!
    Aber dazu kommt es nicht. Ein Pfeil trifft ihn
mitten in die Stirn und er kippt rückwärts zurück, während Tru mit Mary
angelaufen kommt. Mary wirft sich weinend und vor Kummer schreiend neben ihren
Ziehvater zu Boden. Ihre Hände rütteln an seinem erschlaffenden Körper als
könnte ihn das ins Leben zurückreißen. Lia nutzt den Moment und robbt auf allen
Vieren zu Victor. Sie zieht den Pfeil aus seinem Kopf und beobachtet wie die
Wunde sich bereits langsam zu verschließen beginnt, da ergreift Tru ihre Hand
und legt sie um einen Weißdornpflock. Mit vereinten Kräften stoßen sie diesen
in Victors Herz, bevor er sich wieder aufrichten kann. Als das Leben aus ihm
gleitet, ist niemand da, der sein Gesicht streichelt und auch nur eine Träne um
ihn vergießt. Er stirbt alleine und ohne Hoffnung.
    Gemeinsam zerren Lia und Tru Orlando auf die Beine.
Das Schwert ist knapp an seinem Herzen vorbeigeschossen, doch verbreitet sich
das tödliche Silber schnell in seinem Körper. Lia fliegt mit Orlando über das
Kampffeld, während Tru Mary aus der Gefahrenzone geleitet. Sie landet unter
einem Felsvorsprung, wo sofort Chasity und Claudia auf sie zugerannt kommt. Als
Chasity ihren Cousin erkennt, beginnt auch sie sofort zu weinen.
    „Gib ihm dein Blut!“, fordert sie Lia panisch auf.
Sofort gehorcht Lia und drückt ihm erneut ihr Handgelenk gegen die Lippen.
Vielleicht war es beim ersten Mal nicht genug. Orlando schlägt erneut die Augen
auf. Sie sind rotgeädert und voll Furcht. Er spuckt ihr Blut aus um nicht zu
ersticken. Lia schreit vor Frustration auf. Warum kann sie ihm nicht helfen?
    „Was soll ich tun?“, fleht sie ihn weinend an. „Wie
kann ich dich retten?“
    Orlando streckt zitternd seine Hand nach ihrem
Gesicht aus. Sofort schmiegt Lia ihre Wange in seine Handfläche und drückt sie
gegen ihr Gesicht.
    „Bitte! Ich liebe dich.“, jammert sie unter Tränen
und mit brüchiger Stimme.
    Seine letzten Worte sind klar und deutlich. „Du hast
mich gerettet, Schneerose.“

 
    Der Schrei, der aus Lias Kehle dringt, ist der Laut
eines sterbenden Tieres. Sie hat ihre Menschlichkeit in dem Moment verloren, in
dem Orlando seine Augen für immer schloss. Chasity, Claudia, Mary und Tru
schlagen sich