Schneerose (German Edition)
lassen!“
Mit schnellen, verärgerten Schritten folgt Mike
weiter der Straße in Richtung West Street. Hauptsache weg von der blöden Bar
Street und den noch blöderen Feiernden. Lindsays klappernde Absätze begleiten
ihn unaufhaltsam.
„Ich will sie jetzt nicht in Schutz nehmen oder so,
aber ich finde sie hat sich wirklich eigenartig benommen. Sie hat ja gar nicht
mehr auf uns reagiert, so, als könnte sie uns gar nicht hören.“
„Ist mir egal“, entgegnet ihr Mike nur. Es ist ihm
gerade gleichgültig, was Lia macht oder nicht macht. Sie ist selbst groß genug
und er hat keine Lust sich weiter von ihr auf seinen Gefühlen herumtrampeln zu
lassen.
„Ach komm, du weißt selbst, dass das nicht stimmt.
Vielleicht nimmst sie ja Drogen.“
„Hast du sie welche nehmen sehen?!“
„Nein, das ist es ja gerade. Irgendwie wurde sie
erst auf der Tanzfläche komisch, so als wäre sie gar nicht wirklich da.“
„Ist doch klar, sie war zu beschäftigt damit die
Kerle anzumachen.“, erwidert Mike erbost mit zusammengebissenen Zähnen.
„Sie hat die Typen doch gar nicht gesehen, sie hatte
fast die ganze Zeit die Augen geschlossen. Sie hat sie erst aufgemacht, als
dieser heiße Typ plötzlich aufgetaucht ist, so als ob sie ihn gespürt hätte.
Total abgefahren.“
Böse funkeln Mikes Augen Lindsay entgegen. „Wenn du
den so heiß findest, warum bist du dann hier?!“
Erschrocken und verblüfft starrt Lindsay ihn an. Zu
sprachlos, um etwas darauf zu erwidern. Trotzdem begleitet sie ihn zu seinem
Zuhause, welches nur wenige Häuser von ihrem eigenen entfernt steht. Die West
Street bildet die perfekte Vorort-Idylle. Hübsche, gepflegte Vorgärten, rote
und weiße Backsteinhäuser mit grünen Fensterläden und dazu passende Veranden.
Im Sommer hallt das Geschrei spielender Kinder durch die Straße und
samstagvormittags das Geräusch von geschäftigen Rasenmähern. An Halloween
zieren Kürbisse die Eingänge und im Winter winken einem selbstgebaute
Schneemänner und hübsche Weihnachtsdekoraktionen aus den Fenstern zu. Der Duft
eines frisch gebackenen Früchtekuchens dringt aus dem Haus, in dem Mike mit
seinen Eltern und seinem kleinem Bruder Joshua lebt. Schnee fällt vom Himmel
und bleibt eisig auf Lindsays schwarzem Haar liegen. Genießerisch zieht sie den
Weihnachtsduft tief in ihre Nase ein.
„Mhmmmm, Fruit-Cake, da bekomme ich direkt Hunger!“
Mike zögert erst und betrachtet Lindsay skeptisch.
Obwohl sie sich jetzt schon seit zwei Jahren kennen und nicht weit von einander
entfernt wohnen, war Lindsay noch nie alleine bei ihm Zuhause, immer nur in
Begleitung von Lia.
„Meine Mutter hat sicher nichts dagegen, wenn wir
uns jeder ein Stück nehmen“, gibt er dann nach und lässt sie ins Haus.
Um die anderen nicht zu wecken, schleichen sie leise
mit ausgezogenen Schuhen durch den Hausflur in Mikes Zimmer im Keller. Es ist
das komplette Gegenteil zu Lindsays ungeordnetem Chaos. Nichts liegt unbeachtet
auf dem Boden herum und auch auf seinem Schreibtisch stapeln sich keine losen
Blätter. Alles hat seinen Platz. Die Wände des Zimmers zieren keine Poster von
aktuellen Bands, sondern einzelne gerahmte Bilder von Konzertaufführungen oder
Stücken wie z.B. „Vier Jahreszeiten“ von Vivaldi. Nur ein Bild ist anders. Eine
große Collage mit Bildern von Lias und Mikes Freundschaft über all die Jahre,
die sie sich schon kennen. Es beginnt mit Fotos aus ihrer gemeinsamen Kindheit,
auf denen sie Sandkuchen backen, geht über zu verschmierten Eismündern und
endet bei einer Schulfeier. Auf nicht einem Bild davon ist Lindsay zu sehen.
Nur eines fällt ihr auf, weil sie das Bild selbst Zuhause an der Wand hängen
hat. Es entstand wenige Monate nach dem sie auf die Scarborough Grammer School
kam und zeigt eigentlich Lindsay, Lia und Mike bei einem Projekt an dem
Töpferstand ihrer Schule, doch auf der Collage ist Lindsay aus diesem Bild
herausgeschnitten worden. Ein kleiner Kloß setzt sich in ihrem Hals fest, den
sie schnell mit einem Stück des noch warmen Kuchens herunterschluckt. St. Marys
schlägt gerade zwölf Glockenschläge. Mitternacht.
Unglücklich hat sich Mike auf sein schmales
Einzelbett gesetzt und den Kopf in den Händen vergraben. Ein leises Schluchzen
lässt seinen Rücken beben. Noch nie zuvor hat Lindsay einen Jungen in ihrem
Alter weinen sehen. Alle sind dafür viel zu stolz und eingebildet. Gerade
deshalb hat sie sich in Mike verliebt, weil er nicht wie alle anderen ist.
Leicht wie eine Feder
Weitere Kostenlose Bücher